Die Perle Sibiriens

Eine Tour über den Baikalsee

Text und Fotos: Franz Lerchenmüller

Russland Baikal Frauen auf dem Markt

Es ist was faul am Kap Burchan, dem Schamanenfelsen auf der Insel Olchon. Zwar bleibt der Blick von oben zauberhaft: Vor zwei weißgrauen Hörnern aus Fels im See krümmt sich sichelförmig eine Bucht. Drei zerzauste Lärchen recken sich in den Wind, Treibholzstämme liegen im Ufergeröll, und dahinter erstreckt sich das weite, silbern geriffelte Wasser des Baikal - als hätte ein japanischer Gartenarchitekt mit viel Geld seine kühnste Vision entwerfen dürfen. Doch auf den schrundigen Steinpyramiden klettern heute Kinder herum, im türkisen Wasser planscht eine aufgedonnerte Blondine und vom Ufer aus prosten ihr ihre Freunde grölend mit einer Wodkaflasche zu.

Russland / Baikalsee

"Es ist, als ob jemand halbnackt in einer Kirche aus der Pulle säuft", stöhnt Schenja, der junge Dolmetscher, und schüttelt aufgebracht den Kopf. Eigentlich dürfen nur Schamanen den Fels betreten, die Medizinmänner der burjatischen Einwohner. Frauen ist der Zugang in die Bucht grundsätzlich nicht erlaubt, geschweige denn im Bikini. Selbst ein Kalb, das sich einst in die Felsen verlief, konnte man nicht wegholen. Glücklicherweise fand es nach einer Woche den Weg zurück von selbst. Denn hier ist für die mongolischen Burjaten, neben den Russen die größte Volksgruppe der Baikalregion, der Mittelpunkt der Welt. Olchon ist das Zentrum vieler Energieströme: Um die Insel bläst der stärkste Wind, gleich davor liegt mit 1673 Metern die tiefste Stelle des Sees, hier verläuft der Grabenbruch zwischen sibirischer Platte und Baikalplatte, die jährlich ein paar Zentimeter weiter auseinander treiben. Bereits in hundert Millionen Jahren wird der See deshalb tausend Kilometer breit sein. Kurz: Dies ist ein heiliger Ort und er verlangt Respekt, auch von denen, die nicht an die Geister der Natur glauben. Chan-Ghoto-Babai, der oberste der fünfzig Götter auf Olchon wird zürnen. Und auch Burchan, der Herr des Baikal, dürfte ungehalten sein.

Das größte Trinkwasser-Reservoir der Welt

Seit drei Tagen sind wir am und auf dem Baikal unterwegs, auf der Suche nach Bildern und Begegnungen. Der Baikal, die "Perle Sibiriens", das größte Trinkwasser-Reservoir der Welt, hat alles was ein Meer braucht: Horizonte, die im Dunst verschwimmen, riesige Ausmaße von 636 Kilometer Länge und zwischen 27 und 80 Kilometer Breite, 365 Zuflüsse, 27 Inseln und mehr Wasser als die Ostsee. Nur am Salz fehlt es ihm - am Meersalz und an anderen: Das Seewasser ist fast so rein wie destilliertes. Deshalb wurden zu Sowjetzeiten den Anwohnern Jodtabletten verabreicht - zur Deckung des Mineralienhaushalts. Heute muss jeder mit seiner Mängelwirtschaft selbst zurechtkommen so gut er kann.

Russland Baikal Kap

Viel Natur und wenig Menschen

Von Listvjanka aus, wo Frauen getrockneten Fisch und Birkenholzkästchen verkaufen, war das Boot nach Norden gefahren, immer dicht am westlichen Ufer entlang. Der Wald aus Lärchen und Kiefern, der erst bis zu den Felsen herunterreichte, hatte bald Hügeln mit grasiger Steppe Platz gemacht. Die Sonne glitzerte auf dem Wasser, Olga, die 23-jährige Köchin brachte geräucherten Omul, einen lachsartigen Fisch aus dem See, dazu Gurken und Wurst und grobes Brot.

Russalnd Baikal alter Mann

Andrej, der 41-jährige Kopf des Reiseunternehmens "Baikal Trail", erzählte von dem Vorhaben, einen Wanderpfad um den ganzen See herum anzulegen. Rund 1.700 Kilometer lang würde er am Ende sein, und einem nachhaltigen Tourismus, von dem die Bewohner in den Dörfern profitierten, einen nachhaltigen Impuls versetzen. Doch das ist Zukunftsmusik. Zur Zeit düsen die Touristen lieber auf Tragflügelbooten, den "Raketas", über den See, oder zerwühlen mit schweren Off-Roadern die Ufer und campen wild. Vor allem Russen sind es, in weitem Abstand gefolgt von den Deutschen als stärkster ausländischer Gruppierung.

Spätnachmittags legt das Boot in Bolschoje Goloustnoje an. Zwei große verrostete Kräne grüßen. Sie dienen zum Beladen der Schiffe mit Holz - Flöße sind aus Umweltschutzgründen auf dem Baikal schon lange tabu. Eine kiesige Lehmpiste führt in das Dorf, graue, flache Holzhäuser unter Wellblechdächern ducken sich hinter graue Bretterzäune, in manchen Vorgärten blühen Dahlien und Tagetes.

Wodka für die Gottheit

Auch Uljana Bortosows großer Stolz sind die Pflanzen: Malven, Lilien, Eichblattsalat und Gladiolen wachsen bunt durcheinander, liebevoll gepflegt von der kleinen, zerknitterten, übers ganze Gesicht strahlenden alten Frau. Lubov und Vala, die beiden nicht mehr ganz jungen Töchter, versuchen sich mit viel Gelächter und gutem Willen in Konversation. Sie haben für die Touristen ein Zimmer geräumt - 15 Dollar sind schließlich ein kleiner Reichtum. Im Wohnzimmer neben der Schrankwand mit dem Teeservice, den Bleikristallgläsern und ein paar Pralinenpackungen hängt ein Bild von Uljana und Grigorj, ihrem Mann: Zwei schöne junge Menschen mit mongolischen Gesichtszügen, Gesichter wie aus einem Kunstfilm in Schwarz-Weiß. Vor rund fünfzig Jahren war das, zu Beginn ihrer Ehe.

Russalnd Baikal Kinder

Kinder im Ort Schimki

Heute ist Grigorj 75, hat eine Haut wie Leder und geht langsam und gebückt. Seit sieben Generationen wohnt seine Familie in Bolschoje Goloustnoje, 1957 hat er das Haus aus Holz mit Hilfe seiner Freunde erbaut. Zum Abendessen biegt sich der Tisch unter Möhrensalat und Gemüsesuppe, Salamat, einem Brei aus Mehl und Sahne, Plov mit Lamm und süßem Kuchen hinterher. Grigorj taucht einen Finger ins Glas und spritzt ein wenig Wodka auf das weiße Tischtuch: Die ersten Tropfen gehören stets Burchan.

Russland Baikal Blumenfrau

Sibirischer Blumenhandel

Wie kommen die Leute hier über die Runden? "Ich wohne seit acht Jahren hier und weiß es nicht", gesteht Hank Birnbaum, ein Amerikaner, der im Zuge eines Naturschutzprojektes ins Dorf kam und hängenblieb. Eine Kuh, ein paar Schafe hat jeder Haushalt. Einige Männer fischen, in der Schule arbeiten ein paar Leute, und bei der Forstbehörde, die sich auch um den Pribaikalski-Nationalpark kümmert. Dreieinhalbtausend Hektar Forst hat jeder Ranger gegen Feuer und Wilddiebe zu schützen, sagt Viktor Worotynzew später, auf der Anhöhe hinter dem Dorf, mit Blick auf den Fluss Goloustnaya, der in drei mäandernden Armen die kahle Ebene teilt. Viktor, selbstbewust, mit gepflegten langen Haaren, ist einer der Förster, hat aber keine hohe Meinung von seinen Kollegen. Sie nutzten ihre Arbeitszeit für Privatvergnügen, wilderten, seien korrupt - was wiederum kein Wunder wäre, bei einem Monatsverdienst von gerade mal 40 Dollar. Er selbst und eine Handvoll Mitstreiter haben einen Lehrpfad angelegt und Broschüren über den Nationalpark erstellt, mit Informationen über Bären und Wölfe, die Baikalrobbe und den Golomjanka-Fisch und einige andere der rund 1500 heimischen Tierarten.

Unter dem silbernen sibirischen Mond

Abends, im Wohnzimmer eines Nachbarn, geben Tanja, Olga und Luba, drei gesetzte Damen in geblümten Kleidern gekonnt Volkslieder a capella zum besten. In den Banjas, den Dampfbädern ihrer Gastgeber, peitschen sich die Besucher mit Birkenzweigen die Erschöpfung aus dem Leib. Und als der silberne sibirische Mond am Himmel hängt, tritt vor der Schule eine Gruppe alter Männer und Frauen in Aktion, teils in Tracht, teils in Hose und Hemd. Schrille Gesänge mit vielen Strophen stimmen sie an, stoßen sich lachend in die Seite, wenn Textlücken entstehen und laden die Zuschauer schließlich zum Tanz. Übermütig wirft Grigorj seinen Stock auf die Erde und stapft in neuerwachtem Feuer den Rhythmus munter mit.

Russalnd Baikal Schiffsanleger

Schiffsanleger in Pestschanaja

Doch nun Olchon. Ein Inselchen nur, wenn auch das größte, auf der Karte. In Wirklichkeit 72 Kilometer lang und zehn Kilometer breit. Das Schiff stapft entlang der Westküste nach Norden. Baumlose Hügel fallen flach zum See hin ab, später ragen Baumgrüppchen auf, wie Borsten, die ein Friseur übersehen hat. Endlich greift der Wald in Ausläufern von den Kuppen herunter und bedeckt sie schließlich ganz. In Pestschanaja macht das Schiff an einer verfallenen Mole fest. Morsche Balken ragen halbvergraben aus dem Sand, eine Pumpe rostet vor sich hin, schwere Holzkisten vermodern. Die Fischfabrik, die einst hier stand, gehörte zu einem Dorf, das Teil des Archipel Gulag war: In den 50er Jahren schufteten und hungerten hier Stalins politische Häftlinge - Zeit für einen Moment stillen Respekts

Russalnd Baikal Kühe

Auf dem Bauernhof

Abends stellen Oleg und Bajr, die Träger, die Zelte auf. Olga kocht in Eimern auf offenem Feuer Nudeln und Tee, Schenja holt die Gitarre hervor. Songs von den Doors erklingen, alte Komsomolzenlieder und Jewtuschenko-Gedichte, und immer auch die Hymne der Burjaten. In den Dörfern wird ihre Sprache noch gesprochen, es gibt Bücher in Burjatisch, und mit "Burjaad Unän" auch eine eigene Zeitung. Was es offenbar nicht gibt, sind Probleme zwischen den Volksgruppen. Oleg und Bajr sind Burjaten, Reiseführer Alexej und Andrej Russen: "In Sibirien wurden soviele Völker zusammengeschüttet und durchgeknetet, dass keiner weiß, wieviel vom andern er im Blut hat."

Die Natur hilft sich selbst

Morgens ein Bad im frischen Baikal - immerhin steigt die Temperatur im "Kleinen Meer" zwischen Insel und Festland auf beachtliche 18 Grad, überall anders bleibt es sibirisch frisch. In robusten Bussen und zu Fuß geht es über die Insel: Kühe und Kiefern, Dünen und Steilküsten, Boote aus Blech und riesige Möwen. Edelweiß blüht teppichweise, die lila Sterne der Torfastern leuchten von der braunen Erde.

Russland Baikal Kuh

Auch Kühe können einsam sein

In Charanzí hat "Greenexpress", eine Firma, die ihr mit Bier verdientes Geld jetzt in den Tourismus steckt, ein Luxuscamp aus weißen Jurten für betuchte Touristen hingestellt. Alles in allem aber sind die Ufer des Baikal nur wenig bebaut. Was nicht so sehr an der Bereitschaft zur strikten Einhaltung von Bebauungsvorschriften liegt - die Saison ist einfach zu kurz, große Investitionen rechnen sich nicht, in Sibirien hilft die Natur sich selbst. Oder die Götter: Das ehrgeizigste Tourismus-Projekt, die "Glinki-Lodge" auf der Halbinsel Holy Nose, brannte kurz nach der Fertigstellung in den neunziger Jahren ab. Es bringt kein Glück, auf heiligem Boden zu bauen, hatte ein Schamane gewarnt.

Russland Baikal Straße

Dörfliche Tristesse

Auf heilige Orte stößt man allenthalben auf Olchon: Am Weißen Kap verwandelte einst ein Schamane seine drei Söhne in Felsen, weil sie ihm nicht gehorchten. Von orangen Flechten überzogen werden sie dort in steinerner Starre verharren, bis endgültig Friede auf Erden herrscht - keine besonders guten Aussichten für die Jungs. Am Kap Khoboy, dem nördlichsten Punkt der Insel, ragt ein Holzpfahl aus der Erde, umwunden von weißen und farbigen Glücksschleifen.

Schamanenaltar

Ob Buddhist, Orthodoxer oder Naturgläubiger - wer immer hierher kommt, legt ein kleines Geschenk nieder: Münzen, Zigaretten, Bonbons, Feuerzeuge - oder einen Button von "Iron Maiden". Die Religionen existieren am Baikal friedlich nebeneinander und haben sich manchmal ganz eigenartig vermischt.

Russalnd Baikal Motorrad

Unterwegs mit dem Motorrad...

Einen wirklichen Schamanen lernen wir ein paar Tage später kennen, auf dem Weg ins Sayan-Gebirge. Bator Balschinowitsch ist Burjate von vertrauenserweckender Leibesfülle, Mitte fünfzig, Techniker bei einer Telefongesellschaft und kommt auf einem Motorrad mit Seitenwagen angerauscht. Neben der Straße hinter Mondi entzündet er ein kleines Feuer und lässt in einer geborstenen Eisenschale ein paar Kräuter, Kekse und ein Bonbon verglühen. Aus einem Schälchen mit Dosenmilch spritzt er mit einem Löffel Tropfen in jede Himmelsrichtung und murmelt Gebete dazu. Wenig feierlich, ganz unprätentiös geht das vor sich, als tue einer, was eben getan werden muss. Dann nimmt jeder Teilnehmer einen Schluck von der Milch und steckt sich einen Keks in den Mund. Viktor dagegen steckt zufrieden schmunzelnd ein paar Rubel ein, setzt sich auf sein Motorrad und brettert davon. "Es ist gut für die Reise", sagt Alexej, der diplomierte Sportlehrer einsilbig. Und will nicht weiter darüber reden.

Russland Baikal Landstraße

... und zu Fuß

Sicher ist sicher - denn am Baikal haben die Geister ein gutes Gedächtnis. Auch Burchan hat sich den Frevel der saufenden Russen am Schmanenfelsen nicht gefallen lassen. Am Morgen der Abreise verdüstert sich der Himmel. Wind heult, heftiger Regen geht nieder, es schüttet wie aus Kübeln - über einem der trockensten Orte Russlands überhaupt. Kein Wunder.

 

Reisemagazin schwarzaufweiss

 

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