Reiseführer Nordzypern
Wilde Esel
Wohl hatte man von ihnen gehört, es aber nicht so recht glauben wollen. Doch dann tauchten sie unvermittelt auf: Sechs, sieben Esel am Rande eines dicht bewachsenen, niedrigen Hügels. Sie blickten herüber, als versuchten sie abzuschätzen, ob Gefahr von den Eindringlingen ausgehe. Ein paar hastige Fotoschüsse, die Fahrt geht weiter, da traben drei weitere Tiere mitten auf der Straße eine Zeitlang vor dem Auto her, ehe sie im Schatten einer Baumgruppe verharren.
Die Besucher sind entzückt. Keiner ist jemals Wildeseln im offenen Gelände begegnet. Und die schönen dunkelbraunen Tiere stehen wie angewurzelt, nehmen nicht Reißaus, stellen sich sogar in Positur und lassen sich aus einiger Entfernung geduldig fotografieren.
Wildesel und Hausesel
Die temperamentvollen hochbeinigen Tiere sind keine Wildesel im strengen Sinne. Sie sind die Nachfahren verwilderter Hausesel. Immerhin kann sich jeder zyprische Hausesel, der mit zierlichen Trippelschritten einen zweirädrigen Karren hinter sich herwuchtet oder Berge von Stroh auf seinem Rücken balanciert, stolz auf seine somalischen oder nubischen oder aus dem Atlas-Gebirge stammenden Ahnherren berufen. Und er ist ein großer Könner, der willig und ausdauernd Lasten von 100-120 kg bis zu 40 km am Tag schleppen könnte, wenn man es von ihm verlangen würde. Doch diese Zeiten sind Vergangenheit.
Mitte des 19. Jahrhunderts wurden noch 400-500 Tiere exportiert,
im Spitzenjahr 1888 waren es sogar 4.645! Und immer war Indien
eines der Empfängerländer, weil es hier einen großen Bedarf
an zyprischen Zuchthengsten gab. So hieß es 1900 im "Blue
Book" der englischen Kolonialherren nicht ohne Stolz: "Cyprus
can produce
some of the finest donkey stocks in the world".
Anders als die erwähnten drei afrikanischen Familienstränge
zählt die asiatische Verwandtschaft nicht zu den Vorfahren der
Hausesel. Sie sind wie die afrikanischen Wildesel in ihrem Bestand
stark gefährdet. Der nubische und der Atlas-Wildesel gelten
schon als ausgestorben und auf dem asiatischen Kontinent gibt es
nur noch fünf isolierte Populationen im Iran, in der Mongolei,
in China/Tibet, Turkmenistan sowie Indien und allein der chines.-tibet.
Kiang-Wildesel steht nicht auf der Roten Liste der vom Aussterben
bedrohten Tiere.
" . . . sahen wir wilde Esel umherschweifen"
Warum so viele zyprische Esel ungebunden durch das hügelige Buschland des Karpaz ziehen, statt in herkömmlicher Zweckgemeinschaft mit dem Menschen zu leben, dafür gibt es bizarre Erklärungsversuche. Man sagt, sie hätten früher den Griechen gehört und diese, so wird weiter fabuliert, sollen die Tiere während des Krieges (1974) einfach freigelassen haben, damit sie den Türken die Felder verwüsten. Eselherden als Sabotagetrupps . . . Dabei wird schlicht übersehn, dass nachweislich schon im Hohen Mittelalter wilde Esel über die Akamas-Halbinsel im äußersten Südwesten der Insel und vor allem über den Karpaz streiften.
In den frühesten, bisher bekannt gewordenen Nachrichten über
Zypern aus deutscher Feder berichtet Wilbrand von Oldenburg bereits
1211 von "silvestres asinos" (wilden Eseln) wie auch Estienne de
Lusignan in seiner "Description de toute l`isle de Chypre" von 1580.
In den "Memoirs relating to European and Asiatic Turkey" aus dem
Jahre 1817 behauptet der Engländer John Sibthorp, dass noch
zu seiner Zeit die wilden Esel auf dem Karpaz gejagt wurden und Dr.
Paul Schröder schreibt 1873: " . . . in dem Waldgestrüpp
. . . sahen wir wiederholt Ziegenherden, einmal auch wilde Esel und
Pferde umherschweifen." Die vielen durchaus glaubwürdigen,
historischen Zeugnisse veranlassten Eugen Oberhummer 1903 zu
der Feststellung,
es sei "mindestens sehr wahrscheinlich, dass in den abgelegenen
Teilen der Insel Haustiere zeitweise verwildert sind."
Eine einleuchtende Erklärung dafür stammt von einem ortskundigen
Zyperngriechen. Er erzählt von einer jahrhundertealten Tradition
der Bauern, im Winter ihre Esel zum Andreas-Kloster zu bringen und
sie dort freizulassen, weil sie nicht benötigt wurden. Die dichte
natürliche Vegetation der Gegend gab ihnen Schutz und ausreichend
Nahrung. Im Sommer seien viele der Esel eingefangen und nach einer überlieferten
Methode wieder gezähmt worden.
Als der größte Teil der Zyperngriechen 1974 und in den
Jahren danach den Karpaz verließ, blieben Esel herrenlos zurück
und schlossen sich ihren verwilderten Genossen an. Große Teile
der Halbinsel waren überdies in den Jahren danach als militärisches
(aber letztlich unberührtes) Sperrgebiet ausgewiesen, was
der Entwicklung der Eselpopulation zugute kam.
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