Der Schlangengott auf der Pyramide

Entdeckte und unentdeckte Geheimnisse in der mexikanischen Maya-Stadt Chichén-Itzá

Text und Fotos: Volker Mehnert

Man stelle sich folgendes Szenario vor - Berlin im Jahre 3005: Die Gebäude am Potsdamer Platz sind Ruinen. Die Außenmauern des Bundeskanzleramts stehen zwar beinahe unversehrt, doch vom Lehrter Bahnhof ist nur noch der metallische Rahmen zu erkennen. In der Nähe liegen die mit Vegetation bedeckten Fundamente des Reichstages, und in einigem Abstand ist die verbogene Struktur des Funkturms zu sehen. Mischwald und dichtes Gestrüpp haben das Gelände an beiden Ufern der Spree überwuchert. Vereinzelte Menschen hausen in den Wäldern, der städtische Trubel von einst aber ist nicht einmal mehr in ihrer Erinnerung lebendig.

Mexiko Chichén-Itzá Pyramide des Kukulkan

So ähnlich ist es Chichén Itzá ergangen. Die Stadt war vor tausend Jahren eine Art mittelamerikanisches Berlin, ein Bevölkerungs- und Zeremonialzentrum mit großem Einfluss auf zahlreiche Mayagemeinwesen und Indiokulturen in den heutigen Staaten Mexiko, Guatemala, Belize, Honduras und El Salvador. Jetzt sind nur noch die steinernen Reste einiger Monumentalbauten erhalten, die auf einem weitläufigen Gelände verstreut liegen: Tempel, Paläste, Pyramiden, Ballspielplätze und ein Observatorium. Alle wesentlichen Elemente der präkolumbianischen Architektur sind vorhanden.

Mexiko Chichén-Itzá Säulenhalle

Monumentale Architektur: die Halle der tausend Säulen

Außerdem findet man in Chichén Itzá ein verwirrendes künstlerisches Stilgemisch, das verschiedene Epochen der Mayageschichte mit Motiven aus anderen indianischen Kulturen vereint. Deshalb ist die Ruinenstadt eines der wichtigsten Bindeglieder der Gegenwart zur Hochkultur der Mayas, die vor mehr als tausend Jahren ihre Blütezeit hatte. „Jeder topographische Punkt von Chichén Itzá ist voll von entdeckten und unentdeckten Geheimnissen, von seltsamen Reliefs auf mattmarmornem Kalkstein, schnörkelhaften plastischen Barockfriesen, Mosaiken und Säulen und Phallen und Stelen“, notierte Egon Erwin Kisch vor einem halben Jahrhundert.

Die Mauern sprechen und schweigen

Am geheimnisumwitterten Charakter dieses Ortes hat sich seither wenig geändert. Chichén Itzá ist nicht zuletzt deshalb einer der wichtigsten touristischen Angelpunkte in Mexiko und eine der größten kulturellen Attraktionen des amerikanischen Kontinents geworden, weil die Maya-Stadt eine versunkene Welt vorstellt, ohne die Details ihres Funktionierens vollständig preiszugeben. Jede Plattform, jeder Tempel, jede Mauer in Chichén Itzá spricht und schweigt zugleich, enthüllt und verhüllt, gibt Antworten und wirft mit jeder Antwort neue Fragen auf.

Mexiko Chichén-Itzá Totenköpfe

Was bedeuten diese Totenköpfe?

Welche Botschaft vermittelt wohl jene Wand, aus der Steinmetze und Künstler eine makabre Bilderserie mit Hunderten von Totenköpfen herausgemeißelt haben? Warum wurde ein Kult um den Planeten Venus getrieben, dessen Symbol auf den steinernen Plattformen immer wieder auftaucht? Welche Kriegszüge verherrlichen die Reliefs, auf denen Mayakrieger zusammen mit herzfressenden Adlern und Jaguaren abgebildet sind? Wie liefen die Zeremonien ab, die am Rande des Cenote stattfanden, einem heiligen Wasserloch, auf dessen Grund Archäologen nicht nur Opfergaben aus Ton und Edelsteinen, sondern auch menschliche Skelette fanden? Wer traf sich im sogenannten Tempel der Krieger, auf dessen Säulen scheußliche Monster mit Krokodilbeinen und gefiederte Schlangen mit Menschenköpfen im Maul abgebildet sind? Welche Stimmung herrschte während der zeremoniellen Wettkämpfe auf den gemauerten Ballspielplätzen, bei denen ein Kautschukball durch einen weit oben angebrachten steinernen Ring befördert werden musste? Wer waren die Sieger, wer die Verlierer?

Mexiko Chichén-Itzá Ballspielplatz

Der Ballspielsplatz - ein präkolumbianisches Stadion?

Manches wird durch Skulpturen anschaulich bebildert, auf Reliefs erzählt und auf Stelen dokumentiert. Die Archäologen und Mayaforscher mögen daran viele Zusammenhänge erkannt, vieles erklärt und gedeutet haben: Die bis vor kurzem rätselhafte Schrift der Mayas ist entziffert, Herrscherdynastien sind bekannt, Zahlensystem und Kalenderberechnungen erforscht, die Rolle von Gottheiten und Priestern definiert. Das meiste aber bleibt hinter dem Schleier einer auf ewig verschwundenen mittelamerikanischen Geschichte verborgen. Denn niemand weiß, wie das alltägliche Leben in den Städten und Dörfern ablief, als die Stadt zwischen dem achten und zwölften Jahrhundert zu einem der einflussreichsten Machtzentren der Mayawelt aufstieg und kurz darauf wieder in der Bedeutungslosigkeit versank. Wie sich die Menschen damals ihre Zeit vertrieben, wie Bauern, Handwerker und Adlige ihrem Tagwerk nachgingen oder wie die Herrschaftsmechanismen funktionierten - all das wagen auch die Experten nicht eindeutig zu sagen.

Tausend merkwürdige Details

Besucher können sich in Chichén Itzá deshalb der Phantasie überlassen und zwischen Pyramiden und Tempeln ihre eigene Mayawelt erträumen. Ob morgendliche Nebelbänke die Gebäude verhüllen oder ob die tropische Mittagshitze auf dem hellen Kalkstein brütet - die Anlage strahlt immer eine eigentümliche Magie aus, die mit wissenschaftlichen Erklärungen nicht zu vertreiben ist. Selbst wenn man sich gründlich mit der Mayakultur und den Ergebnissen der Forschung beschäftigt hat - zwischen den gewaltigen Bauwerken verliert das angelesene Wissen an Bedeutung. Noch beim dritten oder vierten Besuch stolpert man über vorher nicht wahrgenommene Mauern, staunt über tausend merkwürdige Details und bewundert den kühnen Gigantismus der Gesamtanlage, die sich in ihrer Glanzzeit über mehr als fünfundzwanzig Quadratkilometer ausbreitete.

Mexiko Chichén-Itzá im Nebel

Geheimnisumwitterte Ruinen im Morgennebel

Immer aufs Neue hat man Mühe, den europäisch geprägten Blick zu korrigieren, der in den Bauwerken die Bedeutung der Innenräume sucht, während die Architektur der Mayas trotz aller Monumentalität nur winzige umbaute Hohlräume schuf und sich vorwiegend mit der Gestaltung des Außenraumes befasste: mit sorgsam angeordneten Höfen und Plätzen, mit hochragenden Pyramiden und Freitreppen, mit präzise proportionierten Sichtachsen. Angesichts der Ruinen einer Zivilisation, die beim Auftauchen der spanischen Konquistadoren schon längst untergegangen war, kommt zwangsläufig auch die Vergänglichkeit der eigenen Kultur in den Sinn.

Mexiko Chichén-Itzá Pyramide und Observatorium

Im Hintergrund: die Pyramide des Kukulcán

Mexiko Chichén-Itzá ObservatoriumEntzifferte Rätsel und auf ewig verborgene Geheimnisse der Mayakultur vereinen sich im zentralen Bauwerk von Chichén Itzá, der Pyramide des Kukulcán. Die Spanier nannten sie „El Castillo“, weil sie wie eine Burg das flache Gelände beherrscht. Egon Erwin Kisch sprach von „Luginsland und Kalender, Vatikan und Festung, Glyptothek und Schatzkammer“ und deutete damit die bekannten und unbekannten, die tatsächlichen und aus europäischem Blickwinkel angedichteten Funktionen dieses majestätischen Bauwerks an. Was auch immer vor tausend Jahren der Zweck gewesen sein mag, die Konstruktion der Pyramide und des daraufgesetzten Tempels für den Schlangengott Kukulcán folgte einem genialen Plan. Die Baumeister orientierten sich dabei an den Vorgaben von Sonne und Mond, von Jahreszeit und Kalender. An allen vier Seiten der Pyramide führt eine Treppe hinauf zur oberen Plattform, jede hat einundneunzig Stufen. Zusammen mit der Schwelle am Tempeleingang ergibt dies dreihundertfünfundsechzig, die Anzahl der Tage eines Jahres.

Die eindrucksvollste Treppe des Erdballs

Mit Hilfe ausgefeilter astronomischer und architektonischer Messungen ist das riesige Gebäude außerdem zentimetergenau nach dem Stand der Sonne an diesem besonderen geographischen Ort ausgerichtet. Dadurch erreichten die Baumeister an der Vorderseite einen verblüffenden optischen Effekt, der den einfachen Menschen damals wohl Angst und Respekt einflößte und der Kisch dazu veranlasste, von der „eindrucksvollsten Treppe des Erdballs“ zu sprechen: Zur Tag- und Nachtgleiche, am 21. März und 21. September, wirft der nordwestliche Winkel der Pyramide auf die Balustrade der Treppe ein Muster aus Licht und Schatten, das den Körper einer riesigen Schlange imitiert. Wenn diese Lichtskulptur, von Mensch und Sonne gleichermaßen geschaffen, schließlich kurz vor Sonnenuntergang mit dem in Stein gemeißelten Schlangenkopf am unteren Treppenabschluss zusammentrifft, ist die Inszenierung komplett: Für kurze Zeit präsentiert sich den Beobachtern auf dieser ausgeklügelten zeremoniellen Bühne Kukulcán, der mysteriöse Schlangengott der Mayas. In einer majestätischen Bewegung scheint er sich von der Pyramide herabzuwinden - ein astronomisch-architektonisches Meisterstück.

Mexiko Chichén-Itzá Blick zum ObservatoriumDiese mythologisch inspirierte Sonnenuhr an der Pyramide des Kukulcán ist ein Beispiel dafür, dass die Mayas betört und beängstigt waren vom stetigen Verlauf der Zeit und von der zyklischen Bewegung der Gestirne. In den Sternen sahen sie gute und böse, gnädige und ungnädige Götter, weshalb sie ihren Lauf genau beobachteten und ihre Wiederkehr fürchteten oder erhofften. Um den Gang der Gestirne zu berechnen, errichteten sie eigenständige Gebäude.

In Chichén Itzá stehen noch die Überreste eines Observatoriums (Fotos auf dieser Seite), das wegen seines runden Grundrisses zu den schönsten und ungewöhnlichsten Bauwerken des präkolumbianischen Mexiko gehört. Nicht zufällig erinnert es in seiner Konstruktion an moderne Sternwarten. Kleine Öffnungen in der Kuppel dienten dem Studium bestimmter Sternbilder und Planetenkonstellationen. Die oberen Fenster sind auf die höchste Sonnenposition zum Zeitpunkt der Tag- und Nachtgleiche ausgerichtet.

Was geschah am 8. September 3113 vor Christus?

Mit Hilfe ihrer Observatorien kamen die Mayas dazu, die Zeit nicht nur zu messen, sondern sie auch zu gliedern und damit durchschaubarer zu machen: Drei Kalendersysteme, die mathematische, astronomische und mythologische Aspekte vereinten, dienten der Landwirtschaft, der Geschichtsschreibung und der Religion. Eine lineare Zählung, die aus nicht mehr nachvollziehbaren Gründen exakt am 8. September 3113 vor unserer Zeitrechnung begann, erlaubte die Datierung historischer Ereignisse. Zwei zyklische Kalender dienten der Berechnung von günstigen Terminen für Aussaat, Ernte und Kriegszüge sowie der Festlegung von Zeitpunkten für religiöse Zeremonien und kultische Handlungen.

Mexiko Chichén-Itzá Schlangenkopf

Der Schlangenkopf: ein Motiv das immer wieder auftaucht

Durch Bauwerke wie das Observatorium oder die Pyramide des Kukulcán versuchten die Mayas, die Macht der Götter und Gestirne zu bannen, indem sie die himmlischen Vorgaben in menschliche Ordnungsmuster übersetzten. Die Schöpfung am Firmament wiederholte sich durch irdische Imitationen, Architektur und Astronomie verschmolzen zu einer Einheit. Deshalb hätten die Baumeister wohl durchaus erwartet, dass das Herabsteigen ihres Schlangengottes auch nach einem Jahrtausend noch sichtbar sein würde. Dass sich aber inzwischen zweimal pro Jahr Zehntausende von Fremden aus aller Welt versammeln, um dem Mayagott und seinen kreativen Architekten eine zeitgemäße Reverenz zu erweisen, das hätten sie sich nicht vorstellen können – ebenso wenig wie die ausgefeilte Licht- und Tonschau für Touristen, die jeden Abend nach Sonnenuntergang das Schlangen-Phänomen mit technischen Mitteln nachstellt.

 

Reisemagazin schwarzaufweiss

 

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