"Memel blue" am Nemunas

Klaipeda, Kurische Nehrung, Klein Litauen - einmal rund ums Kurische Haff

Text und Fotos: Franz Lerchenmüller

"Ich habe viele weinen sehen", sagt Albis, und schaltet einen Gang zurück, weil die Straße vor Minja doch stark an ein Waschbrett erinnert. "Wenn sie auf den Stufen des Hauses standen, in dem sie geboren wurden, hat sich oft ihr größter Traum erfüllt."

Und wenn man nun kein Heimwehtourist ist? Nicht in jedem Lokal nach der unvergleichlichen Sauerampfersuppe von einst fragt, und kein persönliches Schicksal damit verbindet, dass Heydekrug jetzt und für immer Siluté heißt?

Litauen - auf der Kurischen Nehrung

Auf der Nehrung an der Ostsee

Was sucht man dann rund ums Kurische Haff: Auf der Neringa, der Kurischen Nehrung, am Nemunas, der ehemaligen Memel, und in Klein Litauen, das einst das Memelland war? Nun: Man betrachtet das Drama "Vertreibung" als abgeschlossene historische Lektion in Sachen "Schuldenbezahlen" - und entdeckt ein ungewöhnliches Land voller Widersprüche.

Doch dazu bedarf es eines Pfadfinders. Eines Manns wie Albis etwa, gutgenährter Mittdreißiger, Verwalter einer Sportanlage, der an freien Tagen gern Touristen durch die Gegend kutschiert. Und mit seiner Meinung über die Zeitläufe nicht hinterm Berg hält: "Diese Hallen mit den zerfallenen Dächern - das war die Kolchose von Prièkule, aufgelöst nach der Unabhängigkeit. In jedem zweiten Dorf findest du solche Ruinen. Jeder bekam drei Hektar Grund - aber davon kann niemand leben. Vor allem nicht, wenn billige Zwiebeln und Kartoffeln aus dem Ausland den Markt überschwemmen."

Litauen - Priekule

In Prièkule

Klein-Litauen

Versteppte Wiesen, hellbraune Äcker, ein weites, flaches Land - das ist Klein Litauen, jener etwa 30 Kilometer breite Streifen an der Westküste Litauens, der vom Nemunas im Süden etwa 70 Kilometer hoch bis zum Dörfchen Nemirseta reicht.

Kurz vor Siluté stehen flache Baracken neben der Straße. "Aus der Sowjetzeit. Die heiligen Hallen der Autobesitzer von Siluté". Dort verwahrten sie abends ihr Kostbarstes. Und gingen die fünf Kilometer zu Fuß nach Hause.
Man macht keinen Urlaub in Siluté - auch wenn dort "Sehnsucht"-Sängerin Alexandra und der Dichter Hermann Sudermann geboren wurden. Man kommt allenfalls vorbei, hält an, bummelt ein wenig. An der Straße die Kirche, Geschäfte, ein Handel mit deutschen Gebrauchtmöbeln, ein Heimatmuseum. Aalspieße, Torfspaten, Dreschflegel finden sich, der ganze Werkzeugkasten klein-litauischen Lebenserwerbs. In einer Ecke dämmert ein großer Leninkopf vor sich hin. Den wolle niemand mehr sehen, versichert im Brustton der Überzeugung Brigita Dulkies, Anfang 60, klein, rotblond, ein wenig nervös. Lieber führt sie eine andere, neue Statue am Ortseingang vor: Egon Scheu, Gutsbesitzer Ende des 19. Jahrhunderts und "Siluty Miesto Mecenatas" hat am 14. 12. 2001 ein eigenes Denkmal bekommen, gestiftet vom Rotary Club und anderen Sponsoren, Gönnern, Mäzenen. Sein Gutshaus dahinter wurde zum Touristen- und Kulturzentrum umgebaut.

Litauen - Büste im Heimatmuseum von Silute

Leninkopf im Schuppen des Heimatmuseums von Siluté

Klaipeda, das einstige Memel

Klein Litauen - das ist das Land der alten Leute. Wer jung ist und überleben und leben will, geht nach Klaipeda. Klaipeda, das ehemalige Memel, das 2002 seinen 750. Geburtstag feierte, zieht sich wie ein Band die Küste entlang. Das eigentliche Zentrum aber ist sehr überschaubar. Ein paar Fachwerkbauten, die Statue des Ännchen von Tharau, eine neogotische Post, ein Windjammer auf dem Fluss Dané - das touristische Inventar ist schnell abgehandelt. Einen Schönheitspreis wird die Stadt so bald nicht gewinnen, die Granaten der Roten Armee haben zu viel Substanz in Trümmer gelegt. Kein "Zauber" also, der sich nach einigen Tagen erschließen würde. Aber ein Gesicht, das Konturen bekommt: Kantig, rau, verschlossen. Aber nicht unsympathisch.

Litauen - Klaipeda - Ännchen von Tharau

Die Statue des Ännchen von Tharau

Am Hafen ragen die Kräne hoch wie Gottesanbeterinnen in Reihe. In der Hauptstraße haben sich elegante Schuhläden breitgemacht, blitzende Audis und BMWs piepsen ihren Besitzern auf Knopfdruck freudig entgegen, und nachts spiegeln sich im Fluss die Laternen - es werde Licht werden, hatte der neue Bürgermeister versprochen.

Litauen - Hafen von Klaipeda von der Kurischen Nehrung

Blick auf den Hafen von Klaipeda von der Kurischen Nehrung

Und doch ist da dieser Bruch: All die Versatzstücke westlichen Konsums sind da. Aber Autos, Mode, Reklametafeln wirken fremd - weil die Fassaden nicht Schritt halten. Man spürt, dass die Häuser und die weiten Plätze zu einem anderen Zweck erbaut wurden, als Waren verführerisch zu präsentieren. Der Kapitalismus hat sich in der Stadt eingenistet. Sie ist nicht organisch mit ihm gewachsen.

Die Frauen auf dem Markt halten dicke Büschel Bärlauch bereit, ein narbiger Rentner stellt eine Partie Schach auf, sein Gegner vom Stand mit dem Angelzubehör gibt zwei Flaschen Bier aus, und die Dame mit den gewaltigen fleischfarbenen BHs im Angebot säbelt morgens um zehn die ersten Cepelinai klein, mächtige Kartoffelknödel, die mit Hack gefüllt und mit in Fett schwimmenden Zwiebeln übergossen sind.

Plumpes Landessen, von dem die langbeinigen Blondinen mit den gürtelbreiten Minis und die Kaugummi kauenden Herren aus der Sicherheitsbranche nichts mehr halten. Sie ziehen Carpaccio und Pfeffersteaks vor, essen gehen ist eines der beliebtesten Hobbys der Leute mit Geld. Sie kaufen auch nicht auf dem Markt, sondern fahren hinaus in den neuen "Hyper maxima" Supermarkt. Die Frischetheken mit einer Unzahl von Salaten, Cognacs zum Preis von umgerechnet hundert Euro, aber auch Wodka im Joghurtbecher und ein neuer Schimmelkäse, der, erstaunlich genug, "Memel blue" heißt - selbst nach westlichen Standards bleiben wenig Wünsche offen.

Doch Klaipeda ist jetzt eine Welt weit entfernt. Da, wo der Nemunas sich trennt und mit seinen Armen das Land in die Zange nimmt, liegt Rusné. Die Strommasten auf den Feldern haben Stelzen aus Beton als Schutz gegen Überschwemmung und Eisgang, blauer Himmel spiegelt sich in den weiten Wasserflächen, Scharen von Gänsen tummeln sich darauf, und dann, aber hallo, ziehen auch noch zehn, zwölf wilde Schwäne vom Memelstrand über den Himmel - gibt es überhaupt zahme?

Litauen - Räucherfisch

Geräucherte Brachsen

Viel Kopfsteinpflaster, mitten im Dorf eine teilrenovierte Kirche und ein paar in Ehren ergraute Holzhäuser, deren einstige Schönheit noch zu erahnen ist - das ist der Ort. Und mittendrin erhebt sich übergroß der Neubau eines Internats: "Für Kinder aus der Region, die wegen der Überschwemmungen zu oft die Schule versäumen." Der junge Arvidas verkauft geräucherte Brachsen, auf dem Friedhof sind die paar noch übriggebliebenen Gräber von Deutschen mit rostigen Eisengittern gesäumt, und nahebei hat Kazimieras Banys ein altes Fischerhaus zum Museum ausgebaut: noch mehr Reusen, Butterfässer, Eisäxte. Und noch eine dieser tragischen Geschichten eines alten Menschen über Sibirien - die freilich alle erst 1945 einsetzen.

Litauen - deutsches Grab auf dem Friedhof von Rusne

Altes deutsches Grab auf dem Friedhof von Rusné

Gleich dahinter erstreckt sich das Nemunas-Delta, eine wilde Sumpf- und Moorlandschaft mit einem Lagunensee, durchzogen von einem Netz aus Wasseradern und Schilfgürteln. Im Sommer ist es wunderschön, sich im Boot unter den Kopfweiden dahintreiben zu lassen und Ausschau zu halten nach Kranichen, Kampfläufern, dem Wachtelkönig. Denn über das Nemunas-Delta führt die Arktisch-Mitteleuropäisch-Ostafrikanische Zugvogelroute. Und eine solche Chance lassen sich Ornithologen nicht entgehen.

Litauen - Blick über das Haff von Vente aus

Blick über das Haff von Venté aus

1929 wurde in Venté, direkt am Haff, eine Vogelwarte gegründet. 91 000 Vögel haben die drei Mitarbeiter in einem Jahr beringt, ein neuer Rekord, sagt Povilas Jazerskas, Direktor seit 1974 und jetzt, mit 77 Jahren, knapp vor dem Ruhestand. Klein, rotnasig, in schwarzer Trainingshose, rotem Pullover und unbestimmbarer Soldatenmütze predigt, poltert, flüstert und schimpft er zwischen den Glaskästen mit ausgestopften Möwen und Fischadlern. Er handelt in drei Minuten die Mysterien des Zugvogelwesens ab, lockt wie ein Uhu, girrt wie eine Taube und löst auch noch die letzten ornithologischen Rätsel: "Warum wir haben so viele Störche in Litauen? - Na klar: Essen wir keine Frösche!"

Litauen - Vogelwart

Povilas Jazerskas

Die Kurische Nehrung

Vom Leuchtturm geht der Blick direkt aufs Haff. 38 Kilometer südwestlich liegt die andere, noch berühmtere Vogelwarte, die in Rybcij, einst Rossitten. Und drüben überm Haff im Dunst - das ist die Nehrung, viel besungen, viel gemalt, viel besucht.

Litauen - Nehrung am Haff

Auf der Nehrung am Haff

Was hat die Kurische Nehrung, was andere Sandstreifen nicht haben? Klar, sie ist länger: 52 Kilometer auf litauischem, 46 auf russischem Gebiet, eine Sandnadel vor der Küste, die die Brackwasserlagune des Kurischen Haffs einschließt. Sie hat das Sommerhaus des Thomas Mann, hat den Hexenberg in Juodkranté, auf dem Bildhauer ihre Gespenster-Alpträume in Holz schlagen durften, hat eine Kolonie von Kormoranen, die einen Baum nach dem andern weiß und zugrunde kacken.

Alle wollen auf die Nehrung. Warum nur? Weil in Nida und Juodkranté die Häuser tiefblau gestrichen sind, ihre weißen Traufen geschnitzt wie geklöppelte Borten und die Apartementblocks einigermaßen im Hintergrund versteckt? Eine putzige, nicht allzu aufregende Touristenkulisse - das ist die Nehrung. Mehr doch nicht.

Litauen - Kurische Nehrung - Haus in blau in Nida

Nidaer Blau

Wären da nicht die Dünen. Höher und weiter als sonstwo sind sie südlich von Nida, "Große Düne", nix dahinter als auch wieder nur Sand und dann Russland - so zeigt sich die "Litauische Sahara". Vom Haff aus steigen Sandberge schräg hoch wie die Wände glattgemauerter Pyramiden, und es ist kein Wunder, dass der Spaziergänger inmitten der hügeligen Wüste plötzlich auf ein treu - oder untreu - sich liebend Paar stößt. Es ist einfach zu schön hier. Und zu einsam.
Vor allem aber hat die Nehrung einen berühmten Namen. Deshalb kommen pro Sommer unzählige Besucher, deshalb fließt relativ viel Geld aus Vilnius auf die Halbinsel. Die Nehrung ist reich, die nagelneuen sterilen Uferpromenaden in Nida und Juodkranté lassen keine Zweifel.

Litauen - Kurische Nehrung mit der "Großen Düne"

Die "Große Düne"

Davon können die drüben nur träumen. In Klein Litauen ist das Leben Schwerarbeit. "1000 Litas sind jetzt offiziell als Mindestlohn festgesetzt", sagt Albis. "Etwa 330 Euro. Nun zeig mir mal, wer hier draußen auf tausend Litas kommt." Die Arbeit mit dem Pferdegespann, hinter dem ein alter Mann schwitzend den Pflug in den Boden treibt, ist keine Folklore. Sondern reine Schinderei. Es geht ums Überleben - und vielleicht reicht es noch für eine Flasche Degtine, litauischen Wodka. Das ist zu wenig, meinen viele, kein Leben: Und also hält Litauen auch immer wieder den traurigen Rekord, weltweit das Land mit der höchsten Selbstmordrate zu sein. Vor Russland, Estland und Lettland.

Litauen - Landwirt im Nemunas Delta

Schwerstarbeit im Nemunas-Delta

Und trotzdem. Trotzdem ist dies ein Plädoyer für einen Besuch. Dieses Land ist zugleich schwierig, schön, heruntergekommen und im Umbruch. Es bleibt: eine Herausforderung.

 

Website des Autors: http://www.franz-lerchenmueller.de

 

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