Hummer und Kartoffelsalat

Im kanadischen New Brunswick pflegen die Akadier stolz ihre Kultur

Text und Fotos: Franz Lerchenmüller

Kanada - Akadien - "Village Historique Acadien"

"Village Historique Acadien"

Endlich Mittag! Erleichtert legt Witwer Marten das Messer beiseite, mit dem er lange Streifen von einem Birkenstämmchen geschnitten hat, um einen Besen "indianischer Art" daraus zu binden. Dann schlurft in seinen schweren Holzschuhen hinüber zum gemauerten Ofen. Freundlich blinzelt der alte Mann durch seine randlose Brille den Besuchern zu. "Für den Wald habe ich mir bei meinen indianischen Nachbarn ein paar Mokassins eingetauscht. Wir Akadier kommen mit den Mik`maq ja bestens zurecht." Die Pfanne mit Lachs und Kartoffeln duftet, draußen knirscht ein Pferdefuhrwerk vorbei und dann kommt auch noch der Schmied auf einen kurzen Schwatz herüber.

Zurück in die Vergangenheit

Kanada - Akadien - im "Village Historique Acadien" bei Caraquet in New Brunswick

Im "Village Historique Acadien" bei Caraquet in New Brunswick

Ganz so gemütlich wie im "Village Historique Acadien" bei Caraquet in New Brunswick ging es Ende des 18. Jh. nicht immer zu in L`Acadie. Es sind bewegte Zeiten in jenem Gebiet an der kanadischen Atlantikküste, das heute zu den Provinzen New Brunswick, Nova Scotia und Prince Edward Island gehört. Ist ja noch nicht lange her, dass die Briten sie, die französischen Siedler, von 1755 bis 1762 in Schiffe gepfercht und verschickt haben nach Massachusetts und in die Sümpfe von Lousiana, weil sie keinen Treueeid auf die britische Krone leisten wollten. Erst seit kurzem hat man ihnen erlaubt, zurückzukehren. Die schönen Farmen freilich, die sie ein Jahrhundert lang aufgebaut haben, sind jetzt in britischer Hand, ebenso das Land, das sie mit Deichen dem Meer abgerungen haben. Ein harter Verlust - hatte doch der Küstenstrich ihre Vorfahren an das gelobte Land, das mystische Akadien Griechenlands erinnert, als sie Mitte des 17. Jh. aus der Bretagne und der Normandie herübergekommen waren. Neu anfangen, heißt es jetzt. In kleinen abgelegenen Dörfern, wo niemand sich an ihrer französischen Sprache und ihrem katholischen Glauben stört.

Kanada - Akadien - im "Village Historique Acadien" bei Caraquet in New Brunswick

Heute betrachten sich eineinhalb Millionen Menschen weltweit als Nachkommen der Akadier. 300 000 davon leben an der Ostküste von New Brunswick, das vor allem durch die 14 Meter hohen Gezeiten in der Bucht von Fundy bekannt ist. Auf der so genannten akadischen Halbinsel im Nordwesten erstrecken sich lange Strände, Blaubeerbüsche setzen im Herbst die Moore in Farbenfeuer. Hunderte von Robben aalen sich auf den Sandbänken vor den Naturschutzgebieten, Geschwader von Seeschwalben stoßen wütend auf jeden Eindringling herab. In den Wäldern tummeln sich Schwarzbären, und lassen sich gern vom "Bärenflüsterer" Richard Goguen mit Schlachtabfällen füttern und dabei von Touristen beobachten. In Dörfern wie Caraquet und Grand Anse säumen weiße Holzhäuser mit penibelst geschnittenem Rasen kilometerlang die Straßen - sehr gesittet und ein wenig provinziell.

Kanada - Akadien - "Versteinerte Sklaven": Felsen in der Bay of Fundy

"Versteinerte Sklaven": Felsen in der Bay of Fundy

Die Vergangenheit aber, von 1770 bis 1920, erwacht im historischen Akadier-Dorf mit seinen 30 Original-Gebäuden zum Leben. Beim Schindelmacher fliegen die Späne, der Bettler pöbelt auf der Straße, und im Restaurant "La Table des ancetres" serviert man "Poutine rapées avec cochon", Kartoffelknödel, gefüllt mit gepökeltem Schweinefleisch - nur echt mit reichlich Zucker darüber.

Kanada - Akadien - Schindelmacher

Schindelmacher

Austern und Hummer

Solches Arme-Leute-Essen findet sich in den Restaurants an der Küste heute nur noch selten. Dort stehen zwar auch Burger und Steaks auf der Karte, aber genauso frische Austern zu erschwinglichen Preisen, fritierte Jakobsmuscheln - und Hummer.

Kanada - Akadien - Alain Champoux mit Hummer-Kundschaft

Alain Champoux mit Hummer-Kundschaft

Man kann Hummer fangen, kochen und verzehren. Alain Champoux macht die Krustentiere zum Mittelpunkt einer kompletten Show. Während der zweistündigen Bootsfahrt in die Bucht von Shediac holt er Hummerfallen aus dem Wasser, in denen sich "zufällig" ein Weibchen und ein Männchen gefangen haben. Er erklärt, wie man mit einer Zange Gummiringe über die fingerknackenden Scheren schiebt, beschreibt, wie die Tiere sich mit bis zu 30 kmh im Wasser fortbewegen und erzählt vom Blauen Hummer im Aquarium von Shippagan, einer Laune der Natur, die einmal unter 25 Millionen vorkommt. Am Ende geht es in die Praxis: Die Besucher lernen, die Krustentiere fachgerecht zu knacken. Erst wenn der Saft spritzt, die Schalen krachen und der ganze Mensch sich einsaut, ist der Genuss vollkommen. Hummer vom Silbertablett? Was für ein Stilbruch, lacht der blonde Strahlemann.

Kanada - Akadien - In den akadischen Farben gestrichenes Haus mit dem gelben Stern

In den akadischen Farben gestrichenes Haus mit dem gelben Stern

1960 wurde mit Louis J. Robichaud ein Akadier zum Präsident von New Brunswick gewählt. Er führte Französisch offiziell als zweite Landessprache ein und eröffnete den Akadiern gleiche Bildungs- und Karrierechancen. Seitdem ist ihr Selbstbewusstsein enorm gewachsen. Über Tankstellen, Stadien und Fischerbooten weht die blau-weiß-rote Flagge, selbst Gartenzäune, Telegrafenstangen und ganze Leuchttürme streicht man in den akadischen Farben und setzt den gelben Stern dazu, der für die Schutzpatronin Maria steht.

Eine fröhliche Kirche

Kanada - Akadien - Pfarrer D`Astous' Kirche Sainte-Cécile-Kirche auf der Insel Laméque

Pfarrer D`Astous' Kirche Sainte-Cécile-Kirche auf der Insel Laméque

Ihre leidvolle Geschichte als Abkömmlinge der ersten französischen Siedler an der Atlantikküste, die Sprache und der katholische Glaube verbinden die Akadier heute noch eng und unterscheiden sie in ihrem Selbstverständnis von den anderen Frankokanadiern, etwa in Quebec. Der Glaube freilich treibt gelegentlich kuriose Blüten. Eines schönen Tages Ende der 1960er Jahre beschloss Pfarrer Gérard D`Astous auf der Insel Laméque, seiner arg düsteren Sainte-Cécile-Kirche ein neues Gewand zu verpassen. Er klapperte sämtliche Malergeschäfte im weiten Umkreis ab und erstand, was immer an Farbspraydosen vorrätig war. Dann machte er sich mit zwei Freunden ans Werk. Als sie nach drei Monaten das fertige Werk präsentierten, gab es durchaus Gemeindemitglieder, die sich fragten, "was die Kerls wohl geraucht haben". Entstanden war so etwas wie eine "psychedelische Kirche". Pastellfarbene Flecken überziehen die Wände wie Farbpigmente von Schmetterlingsflügeln, die Bögen erinnern an regenbogenfarbene Lutscher, rosa Cremetorten lachen von der Decke. Und bei all dem hatte sich der geistliche Hirte sehr wohl einiges gedacht: Die Farbstriche stehen für die Seelen seiner Gemeinde, Ballons und nebelgelbe Kerzen symbolisieren den Himmel, die bunten Glocken mahnen, dass immer Musik sein soll in dieser Kirche. Dazu orange Fenster, tanzende Buchstaben, die Türen in einem giftigen Lindgrün... - ein überaus fröhlicher Mensch muss Vater D`Astous gewesen sein, Akadier von ganzem Herzen.

Kanada - Akadien - La Pays de la Sagouine

Der Höhepunkt im kulturellen Leben der Volksgruppe war das Jahr 1979, als mit Antonine Maillet erstmalig eine akadische Autorin den französischen Prix Goncourt gewann. "La Pays de la Sagouine", ein 1992 nachgebautes akadisches Dorf in einem See bei Bouctouche, erweckt das Personal ihrer Romane zum Leben. Köchin Matilda zeigt, wie man Apfelkrapfen backt, der Fischer räuchert Heringe, und im Rahmen einer Mini-Küchenparty lernen die Gäste, mit Löffeln zur munteren Fidelmusik zu klappern. Von einem scharfzüngigen Waschweib bekommen sie einen Schnelldurchgang in akadischer Geschichte, in dem mindestens zwei Dutzend Mal das Wort "stolz" vorkommt - häufiger fällt nur der Satz "Akadier feiern ums Leben gern." In den Häusern regieren bigotte Witwen, fröhliche Säufer stehen an den Ecken und die Töchter des Friseurs rennen streitend durch die Straßen - es ist das so anrührende wie skurrile Ensemble einer noch nicht ganz untergegangenen dörflichen Welt: Akadien lebt weiter.

 

Reisemagazin schwarzaufweiss

 

Reiseveranstalter Kanada bei schwarzaufweiss

 

Kurzportrait Kanada

Zehn Millionen Quadratkilometer, die vom Polarmeer bis zu subtropisch wirkenden Sykomorenwäldern reichen; mehr als 30 Nationalparks, von denen allein der Woods Buffalo National Park in Alberta größer ist als die Schweiz: Kanada ist seit jeher der Inbegriff von Wildnis und endloser Weite.

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Hummer, Lachs und Lappentang. Nicht nur für kanadische Gaumen eine Delikatesse

In den Gewässern vor der Küste der Provinz New Brunswick findet man sie: die riesigen im Meer verankerten Tanks mit Zuchtlachsen, die Hummerfischer, die ihre Fangkörbe ausbringen und kontrollieren, ob der ausgelegte Köder Hummer in die Falle gelockt hat, und die mit Lappentang und anderen Algen übersäten Felsenküste der Insel Grand Manan.

Hummer, Lachs und Lappentang in Kanada

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Mit dem Zug durch das zweitgrößte Land der Erde

Charlotte ist glücklich. Sie und ihr Mann Brian stammen aus Florida. Vor 14 Stunden haben sie mit 300 weiteren Passagieren in Toronto das Flaggschiff der kanadischen Bahngesellschaft VIA Rail, den Canadian, bestiegen, um auf rund 4.600 Kilometern das zweitgrößte Land der Welt (nach Russland) zu durchfahren. Einmal von Ost nach West durch fünf Provinzen. Von Toronto am Ontario See, dem kleinsten der fünf Großen Seen, nach Vancouver am Pazifik.

Kanada per Zug

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Pedalbetriebene Zeitreise. Montréal mit dem Rad entdecken

Bruno Lajeunesse hängt an dieser Stadt. Und er zeigt seinen Mitfahrern während der dreistündigen Radtour durch Montréal, warum seine Heimatstadt für ihn der schönste Platz der Welt ist. Bei der ungemein kurzweiligen Tour durch die kanadische Millionenmetropole präsentiert er nicht nur die markantesten Bauwerke, sondern zeigt sein ganz persönliches Montréal, führt zu den Stätten seiner Jugend, zu Plätzen abseits der Touristenpfade. Die Tour de Montréal ist eine pedalbetriebene Zeitreise durch die Geschichte und eine Hommage an die Olympiastadt von 1976 zugleich. Eine Tour, die neben bekannten Sehenswürdigkeiten auch das andere, das weniger touristische Leben der zweitgrößten französischsprachigen Stadt der Welt umfasst.

Montreal mit Rad

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