Text: Dominik Ruisinger
Fotos: Gianni Ruisinger
Weintrinken in Maßen tut der Gesundheit gut. Die Venezianer scheinen dieser Aufforderung gern zu folgen. Und das schon aus langer Tradition. "Dai, andemo a bèver un'ombra" - los, lass uns ein Gläschen trinken - ist gerade um die Mittags- und Vorabendszeit in vielen Gassen zu hören. Dabei ist 'Ombra' der venezianische Begriff für ein Glas Wein, ein Gläschen, um es genau zu nehmen. Mehr als hundert Milliliter ist der Genuss nicht groß. Und doch sollen rund 50.000 Ombre getrunken werden - pro Tag versteht sich. Bei rund 60.000 Venezianern - Kindern inklusive - eine stolze Zahl. Kein Wunder, dass viele bereits früh damit beginnen.
Der venezianische Begriff für ein Glas Wein: Ombra
Wie morgens ab sechs Uhr bei Lele, dem weißhaarigen Besitzer der Trinkstube am Campo dei Tolentini. Während die Stadt noch schläft, ist Venedigs winzigste Bar bereits voll. Das heißt, die sechs Stehplätze. Arbeiter im Blaumann, Kanalarbeiter von Lastenfähren, Müllmänner, deren grün-weiße Boote am Ufer auf die Weiterfahrt warten - wenn der Kapitän wieder an Bord ist. Doch der plaudert momentan mit Lele. Daneben blättert der "Dottore" im feinen Zwirn in der rosafarbenen Gazzetta dello Sport. Später kommen die Studenten der nahen Universität.
Eine typische Zutat von Venedig
Jeder kennt Lele. Die Eckbar ist eine Institution, ein Spiegel des Viertels. Und das seit Jahrzehnten. Das Ambiente ist schlicht. Keine Stühle, Holz verkleidete Wände, auf der Theke kleine Brötchen mit Spanferkel, Pfeffersalami, Sardellen. Darüber wirbt ein Schild für das Glas Pinot, Verduzzo, Cabernet oder Merlot ab sechzig Cents. Etwas anderes zu trinken gibt es nicht. Nicht mal einen Bellini, diesen berühmten Sekt-Pfirsich-Aperitif, der einst von Venedig aus den Siegeszug um die Welt antrat. Typisch für alle Bàcari, wie die traditionellen Weinschänken in der Lagunenstadt heißen.
Die Bàcari zählen sicherlich zu den typischsten Zutaten Venedigs.
Fest sind sie im Alltag der Bewohner verwurzelt. Äußerst beliebt
als geselliger Hort der Kommunikation, als soziale Zentren. Hier kehrt
man mit Kollegen ein, schimpft über den Dreck in der Lagune, tratscht über
die Nachbarn, erfährt von Heiratsplänen, diskutiert Sportergebnisse
und schließt Freundschaften. Und trinkt dazu ein Gläschen Wein.
Dabei ist eine Ombra kein Spitzengetränk, das wegen seines wundervollen
Aromas mundet. Eher einfache aber ehrliche Rot- und Weißweine für
den Genuss in der Runde. Wobei es nicht unbedingt bei einem einzigen Gläschen
bleiben muss.
Wörtlich übersetzt bedeutet Ombra übrigens 'Schatten'.
Alte Aufzeichnungen - und dies ist eine vieler Geschichten - besagen, dass apulische Weinhändler Mitte des neunzehnten Jahrhunderts mit ihren Fässern nach Venedig gekommen seien, um dort ihren - im Vergleich zu den damals beliebten griechischen Süßweinen - billigeren Wein ans Volk zu verkaufen. Und zwar open air auf der Piazza San Marco. Um den Wein kühl zu halten, folgten sie stets dem Schatten des Campanile-Turms. Der Name änderte sich auch nicht, als die Händler in Weinschenken umzogen - meist einfache Kneipen, in Gassen versteckt und nicht immer leicht zu finden.
Ritual zur Mittags- und Abendzeit
Diese Bàcari, wie die auf den Weingott Bacchus getauften Lokale fortan hießen, entwickelten sich zum beliebtesten Ort der Venezianer gleich welcher Schicht. Hier trafen sich die Gondolieri auf einen Schwatz, gingen arm und reich, Arbeiter wie Adelsleute ein und aus. Daran hat sich bis heute nichts geändert. Seitdem tritt man also quasi in den Schatten, wenn man auf ein Glas einkehrt, auch wenn die hiesigen Rebsorten des Veneto die apulischen Trauben längst ersetzt haben.
Bis heute hat sich daraus eine Lebensart, ein kommunikativer Stil, ein Moment fröhlicher Geselligkeit entwickelt. Eine Art Ritual, das sich täglich zur Mittags- und Abendzeit wiederholt, wenn die Venezianer einkehren, um einen kleinen Roten oder Weißen zu schlürfen. Natürlich keine ausufernde 'Giro de Ombre', wie Gustav aus dem ältesten Bàcaro, der 'Ostaria all' Antico Dolo' betont. "Die Venezianer sind ihrer Stammkneipe sehr verbunden. Und außerdem wäre sonst jeder sofort betrunken."
Die Ostaria all´ Antico Dolo
Venezianische Tapas
Dafür sorgt auch eine Spezialität, die in jedem guten Bàcaro die Augen zum Lächeln und den Mund zum Schmelzen bringt: Cicheti, kleine appetitanregende Häppchen, die an spanische Tapas erinnern, mit Liebe zubereitet, sorgfältig angerichtet und lecker anzusehen, wenn sie die Theken zieren: Kroketten mit Thunfisch und Stockfisch-Kräuter-Canapés, frittierte Reis- und Hackfleischbällchen, Sardellenrollen und eingelegte Tintenfische, gefüllte Oliven und gegrillte Auberginen, Castraure-Artischocken von der Gemüseinsel Sant'Erasmo und Brotscheiben mit Baccalà Mantecato, der sämigen Stockfisch-Creme.
Kleine appetitanregende Häppchen
Und natürlich die venezianische Köstlichkeit 'sarde in saor', eingelegte Sardinen mit Zwiebeln, Rosinen und Pinienkernen. Die Auswahl ist endlos an den Reichtümern der Küche Venetiens. Kein Wunder, dass kaum jemand an ihnen achtlos vorbeigeht. Und dazu sind die Cicheti äußerst praktisch, lässt sich mit ihnen doch die Zeit vor den Mahlzeiten überbrücken, wenn der Hunger bereits langsam den Magen empor kriecht.
Eine Madonna für die Trinkkultur
Natürlich begießt man die Cicheti mit einer Ombra. Vor allem mit frischen, leichten Tropfen, wie einem Pinot Bianco, Tocai, Chardonnay oder Merlot. Die schwereren gehaltvollen Tropfen bleiben im Schrank, solange nicht doch ein Gast einen Barolo, Brunello oder Syrah ordert. Aber das machen nur wenige. Und dann eher Besucher.
Wie in der Cantina 'Do Mori' nahe der Rialto-Brücke. Von der Decken hängen Kessel, an den Wänden Kupferteller, darunter Regale mit Weinflaschen - fein säuberlich nach rot, rosé und weiß getrennt. Der Heiligenschein einer Madonna leuchtet aus einem Holzkästchen. Auch sie gehört zum Inventar dieses Tempels hiesiger Trinkkultur, dessen Atmosphäre Besucher genießen. "Unsere Gäste sind je zur Hälfte Venezianer und Touristen", erklärt der Barmann, während er hinter der Theke Schinken in hauchdünne Scheiben schneidet, um sie adrett mit ein paar Oliven auf kleinen Tellern anzurichten.
Wir trinken einen Weißwein, essen dazu eingelegte Sardinen, etwas Polenta. Gerade kommen zwei Maler herein, weiß von Kopf bis Fuß. Schnell ein kleiner Roter, ein Mini-Sandwich. Schon sind sie wieder weg. Vielleicht schaut sogar Commissario Brunetti auf ein Gläschen vorbei, bevor er sich wieder ungeklärten Mordfällen widmet. Denn die Stehweinstube spielt in den Krimis von Donna Leon eine Nebenrolle.
Versteckte Orte
Dabei sind die Bàcari nicht immer einfach zu finden. Meist verliert man sich in kleinen Nebenstraßen, um schließlich in den verborgensten Ecken und tiefsten Gassen auf diese Lieblingsorte der Einheimischen zu stoßen. Jedes Stadtsechstel von Venedig hat seine Weinstuben - jede mit eigenen Geschichten, Geheimnissen, Spezialitäten. Jedoch gibt es davon immer weniger. Und wirkliche im alten Stil gibt es streng genommen nicht mehr, meint der Patrone des Traditionshauses 'Al Volto', dessen Innenraum mit Wein-Etiketten tapeziert ist.
Auch das Al Volto erzählt seine eigene Geschichte
"Früher wurden in den Bàcari nur ein paar Weine meist minderer Qualität ausgeschenkt. Viele einfache Leute verkehrten dort", erzählt er, während er die Theke mit mariniertem Pulpo, Fleischbällchen und eingelegtem Gemüse drapiert. "Bàcari ersetzten ihnen kalte Wohnungen und boten ein soziales Umfeld, das es zu Hause nicht gab. Jeder konnte über seine Probleme reden und dazu billigen Wein trinken. Doch heute hat das Fernsehen diese ursprüngliche Funktion längst ersetzt."
Der Geschmack der Lagune
Nicht alle sehen dies so eng. Für viele ist ein Bàcaro die venezianische Osteria, die klassische Weinstube. Das Besondere sei das traditionelle Angebot hausgemachter Cicheti, betont der junge Barmann aus dem beliebten 'Al Portego', das sich im Gassengewühl von San Marco versteckt. Auch wenn die Schnelllebigkeit heutiger Fast-Food-Kultur dies erschwere.Dabei zeigt er auf die Spezialitäten seines Hauses.
Gegrillte Sepia, überbackene Miesmuscheln, Gambas in Knoblauch, eingelegte Zwiebeln - wenn die Gondolieri der Gesang sind, die flatternden Tauben das Geräusch, dann sind die Bàcari der Geschmack von Venedig. Hier lassen sich typische Gerüche entdecken, Geschmacksrichtungen probieren, kulinarische Momente erleben - und damit gehören sie zu den wunderbarsten Zutaten in der Lagune.
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