Bombay (Mumbai)

Mikrokosmos Indien

Text und Fotos: Anita Ericson

Satte vierunddreißig Prozent der indischen Einkommenssteuer werden in Bombay erzeugt. Über die National Stock Exchange sowie die Bombay Stock Exchange laufen mehr als neunzig Prozent des indischen Aktienmarktes. Die größten Banken, die wichtigsten Finanzdienstleister, die führenden Firmen haben in Bombay ihr Headquarter – und Indien seinerseits ist in den letzten Jahren zu einer international schlagkräftigen Wirtschaft angewachsen. Die Stimmung in der Stadt ist großartig, was kostet die Welt?

Indien - Mumbai - Gebäude in der Heritage Area

Im Trendspot „Bar Wink“ ist die Schlange lang, um für den Preis eines veritablen Mahls draußen in der gut gekühlten Lounge am Ingwer-Minz-Martini zu nippen. Ich bin mit Manager Vishal Singh verabredet und schenke mir so das Anstehen. „Vorher hatten wir hier eine schöne klassische Bar mit Bibliothek und gedämpfter Musik. Allerdings zu langweilig fürs Publikum von heute“, erzählt Singh durch die rythmischen Beats, die der englische Haus-DJ in die Sphäre jagt, „Für den Umbau haben wir traditionelle indische Baukonzepte aufgegriffen und sie in stylische Elemente verwandelt. Unsere Bar haben wir mit der größten Vodkaauswahl in Bombay aufgestockt und als Snacks servieren wir frische Sushi“. Ab zehn am Abend beginnt sich das Wink hoffnungslos zu überfüllen, die hippe Menge zeigt sich kompromisslos in westlichem Outfit. Ein Drink, ein Appetizer hier ist der Startschuss ins legendäre Bombayer Nachtleben, das in den Lounges der Fünfsterne-Hotels seinen späteren Höhepunkt findet. Wie etwa im edlen Enigma im luxuriösen JW Marriott Hotel, wo die Schickeria in ihren Limousinen vorfährt. Bussi, Bussi.

Indien - Mumbai - Victoria Station

Victoria Station

Bei Tag betrachtet, ist die Designerkleidung aus dem Stadtbild verschwunden. Keine schulterfreien Tops, keine Miniröcke, keine durchsichtigen Männerhemden mehr. Dafür glitzerknallbunte Saris und klassische Anzüge, die zu hunderten auf mich zu wogen. Mein Ziel ist die Victoria Station, das neogotische Prachtgebäude am Eingang zur Downtown – es ist früher Vormittag und das gegen-den-Strom-schwimmen nahezu unmöglich. Shilpa Shah, die Stadtführerin, die mich begleitet, weicht gekonnt den Menschenmassen aus. Sie ist daran gewöhnt: „Bombay ist eine Stadt der Pendler. Täglich fahren sechs Millionen Leute aus den Vorstädten mit dem Zug zur Arbeit. Die Züge fahren im 45-Sekunden-Takt. Ihre normale Kapazität liegt bei 1500 Leuten, in der rush hour drängen sich bis zu 5000 Passagiere pro Fahrt“. Bombay – das heute offiziell Mumbai heißt, was aber niemanden kümmert – ist eine riesige Stadt mit geschätzten 18 Millionen Einwohnern und äußerst bescheidener Infrastruktur, Shilpa: „Die Straßen sind immer hoffnungslos verstopft und es gibt nur wenige Bahnlinien. Viele Leute brauchen zwei Stunden zur Arbeit – und am Abend das gleiche noch mal retour“. Eine Wohnung im geschäftigen Zentrum zu bekommen ist für viele aussichtslos, die Immobilienpreise nähern sich bereits haarscharf dem Niveau von Tokios besten Lagen.

Indien - Mumbai - Taj Mahal Palace Hotel

Taj Mahal Palace Hotel

Ein guter Teil der millionenköpfigen Menge strömt in die neogotische Heritage-Area, die begrenzt wird vom Victoria Terminus im Norden und dem Taj Mahal Hotel im Süden. Dieses Wahrzeichen des kolonialen Bombay wurde ironischerweise gar nicht von den Engländern erbaut sondern von Herrn Tata, der sich darüber geärgert hatte, dass ihm als Inder der Zutritt zu den britischen Hotels verwehrt war. Daraufhin baute er ein Hotel, das alles andere an Pomp in den Schatten stellte und das heute als die Grand Dame Bombays gilt. Zwischen diesen beiden Endpunkten stehen so prunkvolle Fassaden wie die der alten Universität, des Prince-of-Wales-Museums oder der Sassoon Library. Es ist der kolonialprächtige Südostzipfel von Bombay, das touristische Herzstück der City und gleichzeitig ihr Finanzzentrum. Namentlich im Bereich des ehemaligen Forts, dort wo die Stockexchange als solitärer Wolkenkrater in den Himmel ragt, werden die finanziellen Geschicke Indiens gelenkt. Von modernen Büros ist freilich keine Spur. „Praktisch der gesamte Bezirk steht unter Denkmalschutz und die Gesetze sind streng“, erklärt Shilpa das Fehlen glasverspiegelter Hochhäuser, „Die alten Gebäude kann man nur behutsam renovieren und Platz für neue gibt es nicht“. Das ist also die Wall Street von Indien? Die hätte ich mir, nicht nur architektonisch, anders vorgestellt. Irgendwie lässt sich im Schatten vielfach zerrupfter Häuser, am löchrigen Straßenpflaster, angehupt von wild gewordenen Taxifahrern, der Standardsatz der Bombayiten nur schwer nachvollziehen: „Wenn man Bombay vergleicht, dann mit Städten wie New York oder Tokio“.

Indien - Mumbai - Gateway of India

Gateway of India

Klar, man kann im coolen Dachrestaurant des Taj mit Blick zum Gateway of India und zur Börse preisgekrönte levantinische Mezzes snacken oder in der Gasse dahinter im Indigo am Blattsalat mit fassgereiftem Balsamicoessig knabbern. Man kann im Courtyard ein durchschnittliches Jahresgehalt für indische Haute-Couture-Kleidung ausgeben und im Dome am Marine Drive zu Loungemusik unterm Sternenhimmel abhängen. Keine Woche vergeht, in der nicht schon wieder ein neuer Spot zum Must-be erkoren wird. An diesen Stellen ist Bombay so mondän und zeitgeistig, wie jede andere Stadt von Weltformat auch. Kaum verlässt man aber diese geschützten Räume, steht man mitten im indischen Straßenchaos, übergangslos. Das schicke und trendige Bombay steht immer nur als einzelner Fleck im völligen Wahnsinn.

Indien - Mumbai - im Finanzbezirk Downtown

Im Finanzbezirk Downtown

Den Leuten hier fällt das gar nicht mehr auf, sie neigen zu selektiver Wahrnehmung. Rashmi Hegde ist vor zwei Jahren aus Bangalore hierher gezogen: „Als ich angekommen bin, dachte ich, Hilfe, wo bin ich? Hier schlafen Leute auf den Gehsteigen, das gab es zum Beispiel bei uns nicht. Oder dieses unglaubliche Durcheinander in den Straßen und Gassen. Der Lärm. Der Verkehr.“ Heute sieht Rashmi die Dinge gelassen, wie eine echte Einheimische: „Die Leute, die hier am Straßenrand schlafen, kommen vom Land, um ihr Glück zu versuchen. Und wissen Sie was: Bombay ist die Stadt der Möglichkeiten, jeder bekommt seine Chance. Für den Rest geben Sie uns noch ein paar Jahre, die Stadt hat sich so rasant entwickelt, viel zu schnell, als dass man mit der Infrastruktur nachgekommen wäre“. Sie bedauert es nicht, ihre Heimatstadt verlassen zu haben: „Bombay ist so spannend, so voller Chancen, so sicher. Außerdem ist es hier unglaublich liberal – weil Bombay so kosmopolitisch ist“. Das ist auch einer dieser Standardsätze, den ich immer wieder zu hören bekomme und den ich erst mal verstehen muss, weil ich praktisch keine Ausländer sehe: unter kosmopolitisch versteht man hier, dass Inder aus allen Landesteilen in Bombay leben, Fremde sind in dieser Aussage nicht miteinbezogen. Eine Milliarde Inder, das ist in der Tat ein eigener Kosmos.

Indien - Mumbai - Sraßenszene in Bandra

Sraßenszene in Bandra

Eine überforderte Infrastruktur, horrende Mieten – die ersten Büros sind bereits in nördlichere Stadtviertel abgewandert, vor allem nach Bandra, wo die Gehsteige aber auch erst gefestigt werden müssen. Für die weitere Zukunft denkt man über eine ultramoderne Satellitenstadt im Norden der City nach, gemäß dem Shanghaier Vorbild Pudong. Noch schlägt das wirtschaftliche Herz aber wie gehabt in Südbombay, dort wo sich die sieben Inseln, aus denen die Stadt ursprünglich bestand, zu einem schmalen Zeigefinger verkrümmen. Die Finanzwelt schart sich um das Fort, Rücken an Rücken damit liegt der Businessdistrict Nariman, der sich zum Arabischen Meer hin öffnet. Die Engländer sahen an der Stelle der Hochhäuser noch das Meer, Nariman, wie es heute dasteht, wurde erst nach der Unabhängigkeit aufgeschüttet. Was das Viertel an altem Glanz vermissen lässt, punktet es mit seiner Lage ganz am Ende des Marine Drives, der auf der anderen Seite in Chowpatty Beach und Malabar Hill übergeht. Die ganze Küstenlinie zeichnet hier eine sechs Kilometer lange, formvollendete Mondsichel, Nariman am einen und das Villenviertel Malabar Hill am anderen Ende liegen einander gegenüber.

Indien - Mumbai - Nacht am Marine Drive

Nacht am Marine Drive

Was das Taj für die Heritage-Area ist das Oberoi für Nariman. Es wurde 1986 als eines der ersten Atriumhotels des Landes eröffnet und ist bis heute das erste Businesshotel am Platz. Wie Nariman an sich besticht auch das Oberoi weniger durch seinen alten Charme als vielmehr durch seine fantastische Lage: ich sitze in der Bayview Bar und betrachte die aufflackernden Lichter der Uferpromenade und der Art-Deco-Wohnhäuser dahinter. Die Laternen, die den Spazierweg entlang des Meeres säumen, funkeln wie ein Halsband und tatsächlich hat man diesem Küstenbogen den Namen Queen’s Necklace gegeben. Es ist der schönste Blick auf Bombay überhaupt. Zur Dämmerstunde füllt sich die Bar mit Geschäftsleuten, die nach dem heißen Chaos der Stadt die Abendstimmung in Ruhe und Kühle genießen möchten. Ich selbst gehe lieber noch mal nach draußen. Mittlerweile bin auch ich geübt in selektiver Wahrnehmung, lasse die Taxifahrer hupen, stolpere über drei Löcher im Pflaster und setze mich zwischen die farbenfroh gekleideten Familien, Liebespärchen und Teenager auf das Mäuerchen am Meer. Wozu eigentlich Bombay mit anderen Städten vergleichen? Das funktioniert sowieso nicht, die Stadt ist einfach zu indisch – und es gibt sowieso viel zu viel Grau auf dieser Welt.

Touristische Informationen

Indiatourism Frankfurt, Baseler Straße 46, 60329 Frankfurt, T 069/242 94 90, www.incredibleindia.org

Die offizielle Seite des Maharasthra Tourist Board, jenes Bundesstaats, in dem sich Bombay befindet: www.maharashtratourism.gov.in

 

Website der Autorin: www.anita-ericson.com/anita.php

 

Reisemagazin schwarzaufweiss

 

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