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Vatermord

Als das Buch „Demenz – Abschied von meinem Vater“ im Februar 2009 erschien, sah Tilman Jens sich, wie er rückblickend sagt „von weiten Kreisen des deutschen Feuilletons zur Fahndung ausgeschrieben, als geltungssüchtiger Judassohn, als degenerierter Schänder der anverwandten Lichtgestalt.“

Wir erinnern uns an die empörten, entsetzten, von Widerwillen geprägten Aufschreie nahezu aller populären deutschen Buchbesprecher und Literatursachverständigen, an ihre brachialen, wütenden Attacken gegen den Sohn von Walter Jens. Der viel gehörte, viel zitierte, viel beachtete Rhetor und Gelehrte ist seit einiger Zeit an Demenz erkrankt und Tilman Jans hat in seinem oben benannten Buch den Leidensweg des Vaters aus der Sicht des Beistehenden beschrieben.

Tilman Jens: Vatermord. Wider einen Generalverdacht

So war es von ihm gedacht, angekommen ist er als „Vatermörder“, was ein ebenso perfider wie grausamer Schlag in das Gesicht des Sohnes gewesen sein muss. War beziehungsweise ist, denn Tilman Jens zitiert die Angriffe der selbsternannten Rächer des Vaters so akribisch, dass man ahnen muss, wie sie ihn bis an sein Lebensende verfolgen werden. Und nicht einmal sein Vater, der stets und unverbrüchlich loyal hinter seinen Söhnen, also auch hinter seinem Erstgeborenen gestanden hatte, konnte ihm angesichts dieses Wahnsinns eine Stütze sein. Er ist schon lange nicht mehr, der er einst war.

Anfang 2009 erkrankte die Mutter eines meiner engen Freunde an derselben schrecklichen, alles verändernden Krankheit. Anfänglich durften wir sie noch belächeln ob ihrer plötzlich auftretenden Vergesslichkeiten, doch als wir mit ansehen mussten, wie sie sich quälte wenn das Gedächtnis sie immer häufiger im Stich ließ, oft mitten in einem Gespräch und dann auch bei bis dahin ganz alltäglichen Verrichtungen, erstarb unser Sinn für Humor in diesem Zusammenhang jäh. Die gepflegte alte Dame begann sich zu vernachlässigen, sie lief davon und fand nicht mehr zurück, sie wurde bettlägerig, sie sabberte, sie bettnässte, sie war statt ihrer selbst nur noch die uralte Karikatur eines greinenden Babys. Das, wie infam!, in lichten Momenten klar den eigenen Verfall zu erkennen vermochte.

Wir haben in der Zeit dieses Leidens Tilman Jens Buch „Demenz – Abschied von meinem Vater“ gelesen, haben am Bett der Mutter gesessen und uns (und in manchen Momenten auch ihr!) Passagen daraus vorgelesen. Dankbar und getröstet, nicht allein zu sein mit dem bis dato unbekannten Schmerz und Kraft schöpfend aus der Tatsache, dass einer den Mut gehabt hatte, die Gräuel eines solchen Dahinsiechens zu beschreiben.

Dass dieses Buch bei den Großkopferten der Feuilletons so ganz anders ankam, vermochten wir zunächst nicht zu begreifen. Hatten wir, vom Schmerz um das unwürdige Scheiden der lieben alten Dame völlig zerrüttet, wichtige Passagen des anstößigen Werkes in unseren tumben Wahrnehmungskanälen verrückt interpretiert oder gar übersehen?

Des Freundes Mutter verstarb bald, wofür wir Gott ewig dankbar sein werden, da er sie schnell erlöste, und dann lasen wir die Rezensionen alle noch einmal. Diskutierten mit Freunden darüber und mussten erkennen, dass, IM BESTEN FALL, keiner der urteilenden SchreiberInnen eine Ahnung von dem hat, worüber sie so lauthals schwadronierten. Einige, Tilman Jens benennt auch sie in diesem Buch bei Namen, ohne das Buch gelesen zu haben. Dass sich einer, auch von ihm weiß man den Namen, gar in der Bezeichnung „Mördersohn“ verstieg, was „Sohn eines Mörders“ bedeutet – da mag man die deutsche Sprache noch so lässig verballhornen dürfen – beweist den Irrwitz des Aufruhrs um ein Buch, das den Schleier wegzieht vom entwürdigenden Taumeln des Deliquenten auf dem Weg hin zum Sterben. Einer Krankheit, die man 2030 als Volkskrankheit bezeichnen wird, angesichts der dramatisch hohen Zahl an Demenz erkrankter.

Dieser Fakt ist wissenschaftlich erstellt – offenbar hat keiner der Schreibsamen es für nötig befunden, die Grundlage seines Berufes zur Hilfe zu holen: eine gesunde Recherche.

Doch hätte man dann dankbar sein müssen? Dem Mann, dessen Vater so prominent ist, dass man nicht hätte wegschauen können? Und ihm eventuell sogar hätte dankbar sein müssen, für seine Mut, seine klaren Worte, seine Loyalität?

Zum Teufel nein! So geht man nicht mit von uns ernannten Helden um. Ob und wann sie fallen bestimmen wir und schon gar nicht der Sohn, der „Journalist und Denunziant.“

Man hatte Tilman Jens geraten, die ganze Mischpoke zu verklagen, das aber hat er nicht getan. Stattdessen hat er all jenen, die im Schlachthof schon mit gewetzten Messern bereit standen, mit diesem brillant und facettenreich verfassten Buch ein Mal auf die Stirn gebrannt, das auch ihren, von Hochmut, Geltungssucht, Borniertheit und von kolossaler Selbstüberschätzung getrübten Blicken nicht verborgen bleiben kann.

Danke Tilman Jens, auch für dieses Buch.

usch@saw

Tilman Jens: Vatermord. Wider einen Generalverdacht. Gütersloher Verlagshaus. ISBN 978-3-579-06870-1. 17,95 Euro.

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