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Lutetias Geheimnisse

Lutetias GeheimnisseDas Pariser Hotel Lutetia ist bis heute die einzige Nobelherberge am linken, "intellektuellen" Seineufer. Doch das Lutetia ist mehr als ein Hotel, in seinen Räumen wurde Geschichte geschrieben: In den dreißiger Jahren des 20. Jahrhunderts trafen sich hier die deutschen Exilanten, nach der deutschen Besatzung Frankreichs bezog hier der Nachrichtendienst der Wehrmacht Quartier, und nach Kriegsende nahm das Hotel jene Elendsgestalten auf, die die Hölle der Konzentrationslager überlebt hatten.

Die Geschichten um das Hotel Lutetia füllen ganze Regalmeter, vor allem die Jahre von 1933 bis 1945 fanden ihren Niederschlag in zahllosen Autobiographien und historischen Abhandlungen. Doch erst jetzt hat sich mit dem französischen Schriftsteller Pierre Assouline jemand gefunden, der um die damaligen Ereignisse einen Roman konstruiert hat.
Ein gewagtes Unterfangen, das Assouline mit Bravour gelöst hat, indem er das Geschehen aus der Perspektive des fiktiven Hoteldetektivs Edouard Kiefer erzählt, der in einer kleinen Kammer im Dachgeschoss wohnt und schon aus Berufsgründen in den Fluren und Hinterzimmern nach "Geheimnissen" Ausschau halten muss.

Glaubt man den Angaben des Verlages, so hat Pierre Assouline über dreißig Jahre an dem Buch gearbeitet und dabei eine Unmenge an historischen Fakten über jene schicksalhaften Jahre zusammengetragen und zu dem glänzenden Porträt einer Epoche verdichtet, das auch einen kenntnisreichen Leser beeindruckt.

Nur gelegentlich, wenn er Anekdoten über Künstler und Literaten ausbreitet, die sich im Hotel ein Stelldichein gegeben haben, driftet Assouline in ein etwas aufgesetzt wirkendes Name-Dropping ab. Von Josephine Baker über James Joyce bis hin zu Willy Brandt und Henri Matisse geben sich die Berühmtheiten die Klinke in die Hand, wenngleich sie zum eigentlichen Handlungsverlauf nichts beizutragen haben.
Obwohl er sich als Hoteldetektiv in erster Linie seinem Hotel verpflichtet fühlt, verstrickt sich Edouard Kiefer immer tiefer in den Wirren der Zeit. Als sich ein deutschnationaler Geschäftsmann und ein französischer Hauptmann über die Existenz von Konzentrationslagern streiten, wird Kiefer dazu genötigt, am nächsten Morgen ein Duell auf der Dachterrasse des Hotels zu arrangieren. Ein Vorgriff auf die nahen Konflikte, die das Hotelleben mit seinen Rangordnungen auf den Kopf stellen.

Nachdem die Wehrmacht innerhalb weniger Wochen bis nach Paris vorgedrungen ist, nistet sich die deutsche Abwehr unter Admiral Canaris im Hotel ein. Die halbe Belegschaft wird ausgetauscht, was naturgemäß nicht ohne Intrigen abläuft. Edouard Kiefer darf im Lutetia bleiben; er ist als Elsässer zweisprachig aufgewachsenen und wird als Dolmetscher verpflichtet. Mehr schlecht als recht versucht sich Kiefer durch die Besatzungszeit zu lavieren. Dabei stellt er immer wieder die Frage, "wieweit kann ein Mensch gehen, ohne seine Integrität zu verlieren?" Erst als ihn seine durch die Rassengesetze des Vichy-Regimes bedrohte Jugendfreundin Nathalie um Hilfe ersucht und die Deutschen ihn demütigen, bezieht er Stellung und engagiert sich auf Seiten der Résistance.
Bei der Schilderung des französischen Widerstandes lässt Assouline leider ein paar kritische Worte vermissen. In der gaullistischen Tradition übernimmt er den Mythos, alle Franzosen seien in der Résistance engagiert gewesen; Kollaborateure scheint es nicht gegeben zu haben.

Der Roman schließt mit der Rückkehr der KZ-Überlebenden, die im Hotel einquartiert, registriert und versorgt werden. Ausgelaugte, halbverhungerte Gestalten auf "der letzten Etappe einer endlosen Irrfahrt, die am Tag ihrer Verhaftung begonnen hatte, die Haut aschfahl, das Gesicht ausgemergelt bis auf die Knochen". Wie Kiefer beobachtet, werden nur die Kräftigsten im Restaurant verköstigt; "die anderen, die gerade erst allmählich lernten, sich zu ernähren, bekamen genau dosierte Mahlzeiten in ihrem Zimmer serviert."
An dieser historischen Bürde hat die Geschäftsleitung des Lutetia übrigens bis heute festgehalten. Einmal im Monat richtet sie ein Essen aus, bei dem die einstigen Rückkehrer aus den Konzentrationslagern auf Kosten des Hauses bewirtet werden. Pierre Assouline hat an diesem Treffen ein Jahr lang teilnehmen dürfen und so zahlreiche Details für seinen Roman recherchieren können.

ran@saw

Pierre Assouline: Lutetias Geheimnisse. Heyne TB. ISBN 3453405323. 9,95 Euro

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