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Erwachsen werden

Die etwa 16- oder 17-jährige Mai befindet sich auf einem alten Fischerboot und gerät in einen Sturm. Endet die Flucht aus dem gerade von den Kommunisten eroberten Vietnam nun in der Tiefe des Meeres? Im Rückblick erschließt sich langsam, wie Mai in diese Situation geriet, dass ihr Vater für die südvietnamesische Armee gearbeitet hat und deshalb ins Umerziehungslager gesteckt wurde, aus dem er erblindet wiederkehrte, wie ihre Mutter die Flucht des Mädchens organisiert hat, das es „einmal besser haben sollte“ als die Familie, die zurückbleiben muss. Doch auf dem Boot hat Mai ganz neue Prüfungen zu bestehen. In dem äußerst mageren sechsjährigen Truong erkennt sie gleichzeitig ihren zurückgelassenen jüngeren Bruder Lan und die ausgemergelten Gesichtszüge ihres Vaters, weil der Junge so traurige Augen hat und niemals lächelt. Soll sie sich um ihn kümmern, wie von der Mutter erbeten, deren „Kind der Schande“ er ist? Kann sie diese Verantwortung tragen? Gerade hat sie eine Entscheidung gefällt, da naht die Katastrophe.

Nam Le - Im Boot

Auch Nam Les Familie floh vor den Kommunisten aus Südvietnam, der 1978 geborene Autor wuchs in Australien auf und studierte dort und in den USA. Asien spielt in seinen Geschichten eine wichtige Rolle, doch lässt er sich keineswegs als „vietnamesischer Autor“ bezeichnen – seine Erzählungen über Konflikte zwischen Eltern und Kindern, meist aus der Perspektive der jüngeren beschrieben, haben einen hohen Grad an Allgemeingültigkeit, auch wenn kulturelle Konflikte von Menschen unterschiedlicher Herkunft meist eine Rolle spielen.
Die Amerikanerin Sarah etwa, die in den Iran fliegt, um ihre Freundin Parvin zu besuchen und von einer Minute auf die andere in den Konflikt zwischen den gewalttätigen „Revolutionswächtern“ und der studentischen Opposition gegen das reaktionäre Mullahregime gezogen wird.

In der Erzählung „Liebe und Ehre“ besucht der vietnamesische Vater seinen verwestlichten Sohn in Amerika, der erstmals, nach so vielen Jahren, mit jeder Minute erlebt und versteht, weshalb sein Vater ihn als Kind oft geschlagen und misshandelt hat: Er hat das Massaker von My Lai miterlebt, bei dem amerikanische Soldaten Hunderte von vietnamesischen Zivilisten abgeschlachtet haben. Soldaten aus jenem Land, in dem der Sohn jetzt – auch vor seinem Vater – Zuflucht gefunden hat.

Nam Les Sprache ist sehr direkt, oft drastisch. Seine Geschichten sind voller Gewalt, die sich auch in den Dialogen wieder findet. Aber diese Gewalt ist nicht willkürlich und voyeuristisch wie in einem Computerspiel, sondern sie ist realer Teil im Leben der meisten Menschen in vielen Teilen der Welt. Etwa in den Slums von Medellin, wo schon Kinder von den Drogenbaronen als Killer ausgebildet werden. Oder im Hiroshima des Krieges, als Kinder aus der Stadt in die ländliche Umgebung evakuiert werden und von dort wie einen Blitz beim Fotografieren die Atombombe niedergehen sehen, die ihre Familien zerstören wird.

Geschickt konstruierte Geschichten bringen meist durch Rückblenden den Horror der Vergangenheit zum Vorschein. Sie mahnen, die Menschen – vor allem die jungen Menschen – nicht zu leicht zu nehmen. Und das Leben auch nicht. Ein vielversprechender, polyglotter, tiefgründiger neuer Autor hat hier die Bühne betreten.

fjk@saw

Nam Le: Im Boot: Erzählungen. Berlin: Claassen Verlag. ISBN 978-3-546-00442-8. 22,00 Euro.

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