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Reisen im Kopf

Unglaubwürdige ReisenIlse Aichinger wurde 1921 in Wien geboren. In einem Interview mit der Zeitschrift „Profil“, das in diesem Band abgedruckt ist, vertritt sie die Auffassung, dass sie schon viel zu lange lebt. Deshalb hat ihr Leben eine relativ rigide Form angenommen: Jeden Tag geht sie von Ihrer Wohnung in einem Hochhaus über den Michaelerplatz ins berühmte Café „Demel“, wo sie mit Lesen und Schreiben die Zeit totschlägt bis zum Nachmittag, wenn die Kinos öffnen und sie ihrer inzwischen vielleicht größten Leidenschaft frönen kann. Bis zu vier Filme hat sie schon am Tag gesehen, der sich nicht selten bis in die tiefe Nacht ausdehnt.
Doch wenn sie im „Demel“ sitzt, geht sie auf Wanderschaft. Nicht dass sie heute noch durch ihr geliebtes Wien streifen würde. Ihre „unglaubwürdigen Reisen“ finden vielmehr im Kopf statt. „Wenn einer eine Reise tut“, beginnt ihre erste Notiz, „so kann er nichts erzählen.“ Sie bezweifelt, dass das Aufsuchen der Ferne den Reisenden näher zu den anderen oder zu sich selbst bringt. Und sie zweifelt daran, dass man sich für Reisen in die Geschichte von seinem Kaffeehaustisch entfernen muss.
Ilse Aichinger hat viel erlebt in Wien, als Zwilling, ihrer Schwester so ähnlich sehend, dass selbst die Mutter sie nicht auseinanderhalten konnte, doch vom Charakter so unterschiedlich; als „Mischling ersten Grades“ nach den Nürnberger Gesetzen, in Wien bleibend, während ihre Schwester nach England evakuiert wurde, im Faschismus herumgestoßen und enteignet, die Verwandten einer nach dem anderen im KZ verschwindend.

Vom 11. September 2001, dem Tag des Attentats auf die New Yorker Zwillingstürme, bis zum Dezember 2004 verfasste Aichinger eine wöchentliche Kolumne für den Reiseteil der Wiener Tageszeitung „Der Standard“, von denen viele in der Reihenfolge ihres Entstehens hier abgedruckt sind. Sie schrieb auf dem Papier, das ihr gerade in die Finger fiel: karierten Blättern, der Tagesordnung der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung, Briefumschlägen, Speisekarten, Einkaufstaschen, Werbepostkarten und Hotelpapier – einiges davon wird im Buch als Faksimile wiedergegeben. Die meisten ihrer Kopfreisen bleiben in Wien. Episoden aus ihrem Leben, heitere wie leidensvolle, verschaffen einen genauen Blick auf einzelne Straßen, Plätze und Gebäude: Welche Geschichte(n) verbirgt/verbergen sich dahinter. Und während die mehr oder weniger offiziellen Wiener Erinnerungen an die Vergangenheit oft gezielt diffus sind, erinnert sich Aichinger klar und unmissverständlich. Zeitlicher und räumlicher Abstand können die Urteilsgabe auch schärfen.
Aber ihre Erinnerungsreisen gehen auch nach England – wo sie bei Madame Tussaud’s auf Churchill mit einer Zigarre trifft, anderswo auf Agatha Christie und Prince Charles – oder in den Hafen und das Seefahrtsmuseum von La Spezia in Italien. Anhand eines DuMont-Reiseführers erinnert sie sich an Shanghai, wohin ihr Zahnarzt Dr. David Weisselberg wie viele andere Juden floh. Sein Schicksal kontrastiert Aichinger geschickt mit den peinlichen Banalitäten aus dem dürren Reiseführer-Bändchen.
Und so empfiehlt Ilse Aichinger, das Reisen vielleicht einmal glaubwürdiger zu machen, indem man nicht reist: „Wichtig wäre es, mit der Langeweile im eigenen und im kollektiven Leben umgehen zu lernen, die scheinbare oder wirkliche Bewegungslosigkeit nicht mit erfundenen Aktivitäten und Betriebsamkeit vollzustopfen. Einmal nicht zu reisen, sondern die Landschaft vor dem eigenen Fenster oder die Landschaft des eigenen Lebens auf sich zukommen zu lassen.“

fjk@saw

Ilse Aichinger: Unglaubwürdige Reisen, Frankfurt:Fischer Tb 2007, 186 S., 9,95 Euro, ISBN 3596170761

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