Auf Viel-Völker-Wanderung

Eine Entdeckungstour durch Südäthiopien

Text und Fotos: Franz Lerchenmüller

 

Südäthiopien - Hamer-Frauen beim Fest

Frauen mit vernarbten Rücken beim Fest der Hamer in Teya

Jetzt ist die Frau mit der Kalaschnikow an der Reihe. Am Handgelenk zieht sie einen der jungen Männer auf den Tanzplatz unter dem Baobab-Baum. Er lächelt geschmeichelt, hebt die dünne Gerte und zieht sie ihr mit scharfem Zischen über Rippen und Rücken. Einen Moment blitzt Schmerz über das Gesicht mit den brennenden Augen und den perlschnurförmigen Haarfransen, dann nickt sie dankend und tänzelt in die Gruppe der Frauen zurück: Mit diesem Schlag hat der Vetter ihr seine Wertschätzung gezeigt. Der blutig aufgeplatzte Striemen auf ihrem Rücken neben den zwei bereits vernarbten Wülsten zeigt an, dass sie eine geachtete Frau im Stamm der Hamer ist. Verwirrt und zugleich gebannt verfolgt eine Handvoll deutscher Touristen das Geschehen. Aber auch die Begleiter aus Addis Abeba blicken eher ratlos auf ihre Landsleute: Mit ihren bestickten Lederschurzen und den Halsbändern aus Kaurimuscheln scheinen sie nicht nur durch 600 Kilometer Luftlinie, sondern durch Jahrhunderte von ihnen getrennt zu sein.

Südäthiopien - Hamer-Frau

Das Fest geht weiter. In wenigen Stunden wird das Leben des 18-jährigen Boké als Hamer-Junge zu Ende sein. Rund 100 Verwandte und Freunde sind zu diesem Anlass aus allen Himmelsrichtungen nach Teya gewandert. Nun sitzen sie gruppenweise unter eigens errichteten Laubdächern, plaudern und trinken Hirsebier aus Kalebassen, die immer wieder nachgefüllt werden - nur ein reicher Viehzüchter wie Bokés Vater Haike kann es sich leisten, ein solches Ereignis würdig zu zelebrieren.

Südäthiopien - Fest der Hamer- Boke

Boké und seine Schwester

Teya liegt im tiefen Süden Äthiopiens, ein paar Kilometer von Dimeka entfernt, nahe der Grenzen zu Kenia und zum Sudan. Ein Landstrich, für den äthiopische Touristiker gern mehr Reisende begeistern würden - es muss nicht immer die "klassische Nordroute" mit ihren Kunstschätzen sein. Rund 2000 Besucher kommen bereits pro Jahr. Und finden großartige Landschaften, wilde Tiere und traditionsverbundene Volksstämme vor - das, was man heute "touristisches Kapital" nennt.

Südäthiopien - Pelikane am Chamosee

Pelikane am Chamosee

Doch dieses Land ist wenig erschlossen, und das macht selbst den organisierten Urlaub zum Abenteuer. Viele Stunden holpern die Geländewagen über tief gefurchte Pisten, klettern auf Felsen, mahlen sich durch ausgetrocknete Flussbetten. Motoren beginnen zu kochen, ein steckengebliebener LKW blockiert eine Furt, durchs Autofenster lodert Glühwind und aus der Wasserflasche kommt Tag und Nacht ein Heißgetränk von unbestimmbarem Geschmack.

Südäthiopien - Nech-Sar Nationalpark

Im Nech-Sar Nationalpark

Lohnt es sich, derartige Strapazen zu schultern? Aber ja. Äthiopien ist ein Land, das seine Besucher immer wieder mitten in Landschaftsbilder von aufregender Schönheit versetzt: Durch das gelbe Grasland der Netch-Sar-Ebene ziehen Zebras und Nashornvögel, Thomson-Gazellen verharren im Schatten der Schirmakazien. Der Weg zum Turkana-See ist markiert von den Burgen des Buschlands, den schlanken Türmen der Termitenbauten. Und das Farbenspiel der verwitterten roten Zinnen des Gasergio-Canyons bei Konso, der der Legende nach einst aufbrach, weil ein Dieb hier eine gestohlene Totentrommel vergraben hatte, steht dem der gefeierten nordamerikanischen Nationalparks in nichts nach.

Südäthiopien - verwitterte rote Zinnen im Gasergio- Canyon

Verwitterte rote Zinnen im Gasergio-Canyon

Nachts erklingt im Mago-Park ein ohrenbetäubendes Tonwerk aus Schnattern, Schnalzen, Schnarren, abgelöst von gutturalem Grunzen und verzweifeltem Fiepen - das ewige Lied von Liebe, Hunger, Kampf und Tod. Morgens patrouilliert, aufgeblasen wie ein Schläger, der in einem Sicherheitsdienst untergekommen ist, ein alter Pavian rings ums Lager. Krokodile, fünf, sechs Meter lang, sonnen sich Rücken an Rücken am Chamosee und zeigen Zahnreihen wie schartige Sägeblätter. Daneben prusten Nilpferde wohlig im Wasser, das Abendlicht vergoldet Pelikane und Marabus. Weiter im Norden, an den heißen Quellen des Langano-Sees, picken heilige Ibisse im Sand, Warzenschweine stürmen mit steil aufgerichtetem Schwanz davon, Flamingos erheben sich wie eine blasse Wolke, die auf Reisen geht.

Südäthiopien - Krokodile am Chamosee

Krokodile am Chamosee

Und dann sind da die Menschen. "Museum der Völker" hat man Südäthiopien genannt, der unterschiedlichen Stämme wegen, die sich in der Abgeschiedenheit ihren Lebensstil, ihre Eigenheiten und einen der 200 Dialekte des Landes bewahrt haben. Ein Museum ja, mit der Besonderheit freilich, dass das "Ausstellungsgut" Menschen aus Fleisch und Blut sind, mit eigenem Willen und eigener Würde. Versteht sich, dass es beim Aufeinandertreffen von Bewohnern und Besuchern immer wieder zu rührenden, heftigen und auch beschämenden Situationen kommt.

Südäthiopien - Mursi-Frau

Mursi-Frau mit Lippenteller

Ob in Dörfern der Dorze, Mursi oder Erbore - taucht ein Auto auf, rücken die Frauen Kopfputz oder Lippenteller zurecht, nehmen ein Kind auf den Arm oder eine Freundin um die Schulter und stellen sich in Reihe auf. Ein klarer Handel: zwei Birr, rund 40 Cent pro Foto und Person, Babys extra, zahlbar sofort und ohne Abzug. Wer knapp über die Runden kommt, hat nichts zu verschenken, auch nicht das Recht am eigenen Bild. Größere Kinder probieren lachend ein paar Brocken Touristisch: "Pen, Father! Giv Birr! Karamello!", während die Kleinen sich wortlos an weiße Hände hängen und sie bis zur Abfahrt nicht mehr loslassen. Die Zeit ist knapp, das einzige Geschäft womöglich für viele Tage oder Wochen muss innerhalb von Minuten gemacht werden. Kein Wunder, dass ein enttäuschter Völkerfreund im Besucherbuch des Mago-Nationalparks die Mursi voll Bitterkeit als "gewalttätigen und gierigen Haufen Leute" bezeichnete und auf Idee kam, dass man sie "ihr Leben für sich und ohne Tourismus weiterführen lassen sollte" - ein richtiger Vorschlag zum falschen, weil viel zu späten Zeitpunkt.

Südäthiopien - Webereien der Drorze

Webereien der Dorze

Was haftet von solchen Sightseeing-Stopps im Gedächtnis des Besuchers? Die igluförmigen Hütten der Dassanech, aus Häuten, Blech und Gestrüpp? Die hohen Hüte der Alaba-Männer? Der brodelnde Sud aus Kaffeebohnenschalen auf dem Feuer in der Hütte des Erbore-Chefs? Sicher. Ein bunter Film aus Gebäuden, Werkzeugen, Trachten und Körperbemalung: Folklore.

Südäthiopien - Karo-Frauen

Karo-Frauen mit Schmuck und Körperbemalung

Aber erst an Orten, in denen mehr Zeit bleibt und verständige Dolmetscher als Vermittler auftreten, erwächst aus solchen Zusammentreffen so etwas wie Begegnungen. Voller Stolz erläutert Dorze-Bauer Sagaje in seinem Garten den Anbau, die verschiedenen Sorten und die Verarbeitung der falschen Banane. Seine Mutter zeigt, wie sie aus den Blattschäften den Stoff heraus schabt, der sich durch einen aufwendigen Fermentierungsprozess in Mehl verwandelt. Aus den Fasern werden Basthüte geflochten - ach ja, es gibt sie auch zu kaufen.
In Dimeka versuchen die Studenten Koza und Amon dem Fremden beim Honigwein zu erklären, worum es bei den Kämpfen der Hamer mit den Bume-Leuten zwei Tage zuvor ging, bei denen einige Männer getötet wurden: ums liebe Vieh, wie immer. Und natürlich um die Ehre. Wie, die Deutschen kennen solche Kriegszüge nicht? Arme Europäer!
Und auf dem Markt von Turmi stürzen sich Woyto und Soma, deren Schulunterricht erst um drei beginnt, mit Feuereifer auf die Aufgabe, eine möglichst komplette Liste der Güter zu erstellen, die die Hamer-Frauen anbieten: Tabak und Tomaten, Butter in Konservendosen und Honig in Kalebassen, Ockererde für die Haare und Gras fürs Dach, Ziegen, Esel, Bündel Feuerholz, Mangos, Chili, Eier, Milch. "Und Urra!" fällt Woyto zuletzt noch ein: Grauer Stein, mit dem nach dem Tabakkauen die Zähne gesäubert werden - eine alte Frau zeigt grinsend, wie es geht. Zwei Birr.

Südäthiopien - Wandkarte von Afrika in der Schule von Dimeka

An die Wand gemalte Karte von Afrika in der Schule von Dimeka

Mit solch finanziellem Kleinkram halten die Hamer von Teya sich nicht auf - wahrscheinlich, weil sie als wohlhabende Viehzüchter am wenigsten auf solche Zusatzeinnahmen angewiesen sind. Ein französisches Fernsehteam zahlt 2000 Birr, umgerechnet etwa 220 Euro, um filmen zu dürfen. Der Preis für die Teilnahme der Deutschen beträgt nach langen Verhandlungen 700 Birr, etwa 77 Euro. Jetzt können sie fotografieren, was und wen sie wollen. Großes Interesse erregen sie nicht mehr. Sie sind geduldet. Mehr nicht.

Südäthiopien - Fest der Hame rin Teya

Fest des Hamer in Teya

Es ist fast Abend geworden. Die Festgesellschaft zieht zum großen Platz, auf dem ein Dutzend Ochsen durcheinanderläuft. Schriller werden jetzt die Rufe der Tänzer, schneller die Schritte, heftiger das Klimpern der Glöckchen an den Knöcheln. Roter Staub wirbelt auf, verschwitzte Körper zucken, es riecht nach Viehdung, Holzfeuer, Schweiß und ranziger Butter. Immer öfter zischen Gerten auf nackte Rücken, ein knisterndes Vibrieren liegt in der Luft, ein rhythmisches Stampfen, unterlegt vom Brüllen der Ochsen. Plötzlich öffnet sich der Menschenkreis um die Tiere. Zehn Meter davor steht Boké, noch im Arm eines Freundes. Er macht sich los, nimmt Anlauf, stürmt auf die Herde zu, die Rücken an Rücken steht, springt hoch - und gleitet ab! Gelächter, Entsetzen - wenn er versagt, ist seine Familie für immer gezeichnet. Ein erneuter Versuch - und der gelingt: Der Junge zieht sich auf den Rücken des ersten Ochsen, hüpft und tänzelt über die wogenden Leiber und zwischen den aufgeworfenen Hörnern hindurch, rutscht noch einmal nach unten in die Herde, kommt aber mit gütiger Mithilfe wieder hoch und springt schließlich unverletzt ab. Dreimal hat er die paar Meter über die Ochsen zurückgelegt: Er hat es geschafft. Ab sofort darf er heiraten, kämpfen, eine Hütte beziehen. Ab sofort beginnt das Leben des Hamer-Mannes Boké.

Südäthiopien - Karo-Paar am Omo

Karo-Paar am Omo

 

Reiseinformationen

Anreise: Ethiopian Airlines verbindet mehrmals in der Woche Frankfurt a.M. mit Adis Abeba. Auch Lufthansa fliegt direkt. Bei der Ausreise wird in Addis Abeba eine Flughafensteuer fällig.

Einreise: Reisepass mit sechsmonatiger Gültigkeit. Visum ist erforderlich.  Über äthiopische Botschaft, Boothstr. 20a, 12207 Berlin. Tel.: 030 - 772060.

Klima und beste Reisezeit: Tropische Temperaturen, auch nachts bleibt es warm. Während den Regenzeiten im März/April und Juli/August sind manche Straßen nur schwer passierbar.

Bekleidung und Ausrüstung: Bequeme, leichte Sommerkleidung. Mücken- und Sonnenschutz. Hut. Baumwollschlafsack. Taschenlampe.

Gesundheit: Eine Gelbfieberimpfung ist vorgeschrieben. Der Süden ist Malariagebiet, Prophylaxe erforderlich.

Veranstalter: Zahlreiche deutsche Veranstalter wie Hauser, Ikarus, Studiosus oder Explorer haben unterschiedliche Reisen durch Äthiopien im Programm.

 

Website des Autors: www.franz-lerchenmueller.de

 

Reisemagazin schwarzaufweiss

 

Das könnte Sie auch interessieren

.

Reiseveranstalter Äthiopien

 

Kurzportrait Äthiopien

Es könnte die Wiege der Menschheit sein, denkt man an „Lucy“, das berühmte 3 Mio. Jahre alte Fossil im Nationalmuseum von Addis Abeba. Forscher hatten es 1974 im Land der Afar aus dem Sand geborgen und nach eingehender Untersuchung der Kategorie „Australopithecus“ zugeordnet. Sein Fund war der Auftakt zu weiteren Aufsehen erregenden Entdeckungen von Überresten der frühen Vorfahren des Menschen im Afar-Gebiet, was „Lucy“ das wissenschaftliche Anhängsel „afarensis“ einbrachte.

Kurzportrait Äthiopien

Mehr lesen ...

 

Auf der "historischen Route" durch Äthiopien

Äthiopien hat, wie heißt es doch im Händlerdeutsch der Reisekataloge so platt, "dem Besucher viel zu bieten". Der bekannteste Touristenweg ist die "historische Route" durch das nördliche Hochland. Sie führt entlang der berühmten alten Städte Axum, Lalibela und Gondar zum Tana-See, und erlaubt Abstecher in ganz unterschiedliche Epochen der rund 1700 Jahre alten christlichen Geschichte des Landes - und ein wenig davor.

Äthiopien

Mehr lesen ...