Am Fuß der Blauen Berge

Auf der "historischen Route" durch Äthiopien

Text und Fotos: Franz Lerchenmüller

Das Team ist komplett: "Iyasu im Tor, Imanuel rechter Verteidiger, wir beide im Sturm..." - eine Fußballmannschaft wollen Eisias und Moluko in Lalibela gründen. Die Aufstellung kann man dem schon etwas abgegriffenen Blatt Papier entnehmen, das die beiden bereitwillig ausbreiten. Jetzt ist da nur noch diese lästige Sache mit den Trikots... Die Jugendlichen von Lalibela wissen, was Touristen wollen: Pädagogisch wertvolle Wünsche, vorgetragen mit tiefem Ernst und treuherzigem Blick - wer könnte da schon widerstehen?

Äthiopien

Karin kann. Lachend geht die Reiseleiterin dazwischen: "Immer noch die Trikots? Mensch, Eisias, die Nummer ziehen sie am Tana-See inzwischen auch ab. Lasst Euch mal was Neues einfallen!" Da können auch die beiden nicht anders. Lachen laut heraus und verzichten für diesmal auf die pädagogisch nicht weniger wertvolle Variante "Schuluniform" oder "Wörterbuch".

Karin, die Vielgereiste, hat ihren Weg gefunden, mit dem Widerspruch zwischen der sichtbaren Armut in Äthiopien und dem von den Touristen repräsentierten Reichtum fertigzuwerden: Wie eine burschikose Mutter Theresa fegt sie durch die Reihen, träufelt hier ein paar Tropfen in entzündete Augen und steckt dort einem Blinden einen Schein zu. Eine junge Mutter ermahnt sie, ihrem Kind nicht das Betteln beizubringen und mit Jugendlichen beginnt sie mitten auf der Straße eine lebhafte Diskussion, wie ein stolzes Volk nur dermaßen seine Würde vergessen könne. "Es ist die Schuld der Touristen", sagt ein alter Mann, der dabeisteht.

Die Besucher aber, die zum ersten mal im Land sind, müssen mit ihren Erfahrungen selbst fertigwerden. Und fragen sich auf Schritt und Tritt: Darf man das, als vergleichsweise reicher Westeuropäer in ein Land fahren, das einem seit Jahren nur als Hungerzone, Kriegsregion oder Dürregebiet nahegebracht wird? Ist man dort sicher? Und, na klar, lohnt sich eigentlich ein Besuch in dem Dreieck am Horn von Afrika, das dreimal so groß ist wie Deutschland und von 63 Millionen Menschen bewohnt wird - auch unter rein touristischen Aspekten?

Letzteres beantwortet sich am einfachsten. In gläsernen Bögen erst, dann in mächtig weiß-gelbem Schwall schießt das Wasser über den schwarzglänzenden Fels in die Tiefe. Gischt irisiert in der Luft, ein Regenbogen schillert überm grünbemoosten Basalt - in Sachen Naturdramatik nehmen es die Wasserfälle des Blauen Nil bei Tis mit jedem Katarakt der Welt auf.

Äthiopien - Wasserfall

Und wo dreht sich jetzt das Panorama-Restaurant? Wann geht die Seilbahn? Wer ist für den Verkauf der Videos zuständig? Nichts davon gibt es. Kleine Mädchen bieten buntbemalte Kalebassen an, die Jungs, die sich als Fremdenführer verdingen, prügeln sich schon mal um besonders vielversprechende Kunden, und jeder Besucher muss selbst aufpassen, dass er nicht vom glitschigen Weg abrutscht. Der Tourismus, wenngleich schon Jahrzehnte alt, war in Äthiopien nie so bedeutend, dass Landschaften und Städte nach seinen Maßgaben umgestaltet worden wären.

Äthiopien hat, wie heißt es doch im Händlerdeutsch der Reisekataloge so platt, "dem Besucher viel zu bieten". Der bekannteste Touristenweg ist die "historische Route" durch das nördliche Hochland. Sie führt entlang der berühmten alten Städte Axum, Lalibela und Gondar zum Tana-See, und erlaubt Abstecher in ganz unterschiedliche Epochen der rund 1700 Jahre alten christlichen Geschichte des Landes - und ein wenig davor.

Wo die Königin von Saba residierte

Axum war einst eine der Metropolen dieser Welt. Hier und im Jemen residierte um Tausend vor Christus die Königin von Saba - wofür es freilich bisher keine Beweise gibt. Heute herrscht in Axum gelassenes Kleinstadtleben: Weißgekleidete Frauen warten vor dem Gemeindehaus auf die Zuteilung der Ration Mais, die sie sich mit Straßenfegen verdient haben. Dromedare, beladen mit Feuerholz, trotten zum Markt, wo gerade die ersten Buden öffnen. Verkäufer arrangieren Kohleöfen aus Zinkblechdosen, die zuvor Rapsöl aus der EU enthalten haben und zerfledderte T-Shirts, derer europäische Kids längst überdrüssig geworden sind. Und jede Menge Kinder in hellblauen Uniformen eilen zur Schule. Schnell, schnell - ehe der Lehrer Punkt acht das Tor verschließt!

Am Ende der Hauptstraße aber ragen noch immer die Stelen in den Himmel, bis zu 21 Meter hoch. Die größte, 33 Meter lang, zerbarst schon in der Antike, als man sie aufstellen wollte. Die rund zwei Dutzend Felsnadeln wurden zum Symbol des axumitischen Reichs, das im 3. Jahrhundert n.Chr. zu einer Weltmacht aufstieg. Wie Treppenhäuser führen manche hoch zum Mondgott, Aufstiegshilfen für die Seelen der Toten, die darunter liegen.

Gerade mal 30 000 Einwohner hat Axum - und ist doch so etwas wie das heimliche Herz des Landes. Denn im Schatzhaus der Zionskirche, einem unscheinbaren Steingebäude, wird angeblich die Bundeslade mit den Gesetzestafeln Moses' aufbewahrt, die Menelik, Sohn der Königin von Saba und Ahnherr der äthiopischen Könige, einst seinem Vater Salomo raubte. "Bewacht" wird sie von einem Mönch, der sein Leben lang dafür abgestellt ist, und außer ihm kriegt niemanden das Kleinod zu Gesicht - so es überhaupt vorhanden ist. Gewissermaßen als Ersatz öffnet ein sonnenbebrillter Kollege im Garten davor einen gelben Blechkasten und präsentiert fünf silberne Kronen und ein Kreuz. Auch ein Trost!

Die Felsenkirchen von Lalibela

ÄthiopienStaub pudert die Menschen, Ziegen und Lehmhäuser von Lalibela. Er verstopft die Nasen, macht die Haare strähnig und die Haut stumpf. Auch auf die 12 Felsenkirchen legt er sich, die die Christen im späten Mittelalter senkrecht in den Sandsteinboden schlugen und schabten, Kirchen in der Grube gewissermaßen. Schutzdächer aus Wellblech sind darüber gezogen, die steinerne Decke von St. Georg allerdings liegt noch frei: ein griechisches Kreuz aus Fels versunken im Fels. Warum sie gerade so gebaut wurden? Vielleicht fiel es den Bauleuten hier leichter, zu graben als zu mauern, vielleicht handelte es sich um eine Marotte der Meister - niemand weiß es wirklich.

In St. Marian betet der Diakon barfuß in einem beigen Trenchcoat. Dann schlüpft er in das Allerheiligste, kommt zurück im smaragdgrün, goldgelb und rubinrot glitzernden Umhang und geht mit dem silbernen Kreuz routiniert in Stellung - Fotostellung. Ein Bild, bitte sehr - bitte sehr Birr! Jede der Kirchen hat ihr Kreuz, ihr Fotomodel, ihre Opferbüchse.

An diesem Vormittag feiert Lalibela das Fest von Naktu Laab, einem der vielen orthodoxen Heiligen. Auf einem Hügel stehen und kauern weißgekleidete Gläubige um die Priester in safrangelben Roben, lauschen ihrem vielstimmigen Gesang und schauen auf zu dem Würdenträger in Brokat, der auf seinem Kopf eine Nachbildung der Bundeslade trägt. Der Blick in die konzentrierten Mienen ist zugleich ein Blick in das Doppelgesicht dieser Religion: Ein starker Trost in der Not ist sie, so stark, dass es dem kommunistischen Führer Mengistu während seiner Regierungszeit von 1977 bis 1991 nicht gelang, sie abzuschaffen. Und zugleich lähmendes Gift: Nicht von ungefähr sprechen manche Äthiopier vom "religiösen Fatalismus" ihrer Landsleute, der zum Bremsklotz jedes Fortschritts werde: "Wenn in Äthiopien Hunger herrscht, haben wir gesündigt. Nehmen wir es also hin! Lasset uns beten."

Äthiopien

Königsstadt Gondar

Die Burgen der Königsstadt Gondar, über denen Rote Milane kreisen, erwartet man eher im schottischen Hochmoor. Und doch ist das Ensemble aus Zinnen und Mauern, verfallenen Reithallen und Löwenkäfigen das ureigene Produkt äthiopischer Baumeister, in das indische und jemenitische Stilelemente eingeflossen sind. Ab 1632 ließ im Gemp von Gondar, dem Palastbezirk dieser einst für Ausländer verbotenen Stadt, jeder Kaiser seine ganz persönliche Vision eines Prachtbaus verwirklichen. In den verfallenen Sälen fanden bis Mitte des 19. Jahrhunderts panafrikanische Sängerwettbewerbe statt, Hofschranzen entspannten im Dampfbad, Dichter wurden mit Honigwein belohnt - fast glaubt man sie noch unter den lila Jacaranda-Bäumen lustwandeln zu sehen, umschwebt von den Geistern der insgesamt 9099 angeblich wegen Widerspenstigkeit gegen den König geköpften Mönche, deren Häupter unmittelbar vom Richtblock auffuhren gen Himmel.

Viel stärker als diese frühe Disney-Welt aber berühren die Bildbänder der Dreifaltigkeitskirche. Wie große Comicstrips überziehen sie den Innenraum, in Lichtblau, Feuerrot, strahlendem Gelb und tiefem Grün. Ergötzliche und lehrreiche Geschichten aus der Bibel erzählen sie, und feiern die Martyrien äthiopischer Heiliger: Da wird verbrannt und zerstückelt, geköpft, gepeitscht und geschunden, gebetet, geduldet und gelitten - vom 11. bis ins 20. Jahrhundert hinein wurde in Äthiopien nur so gemalt.

Die Holzdecke ist mit Engelsköpfen geschmückt, klaren Gesichtern mit schwarzen Pupillen so groß wie Kirschen: Es sind die Augen, denen man überall im Land begegnet, Augen mit Tiefe, die im Gespräch voller Interesse aufleuchten, oder auch vor Zorn blitzen, wenn sie einer unerwünschten Kamera ansichtig werden. Ihr Ausdruck aber bringt den Besucher zum Grübeln: Arm, aber stolz, schicksalsergeben, aber von großer Freundlichkeit und Würde - haben wir sie so am liebsten, die Afrikaner? Dazu die gleichen christlichen Wurzeln und dieses Faible für helle Haut - sie sahen sich einst als "die Weißen Afrikas"- : Schätzen die Deutschen gerade deshalb die Menschen am Horn so sehr, dass sie im vergangenen Jahrhundert gar eine wahre "Äthiopienromantik" entwickelten?

Das Land ist schön, kein Zweifel, mit seinen zerklüfteten Kämmen, den von tiefen Schluchten durchzogenen Hochplateaus und dem Patchwork aus ockerfarbenen Terrassenfeldern. Auf dem "Dach Afrikas", dem Simien-Gebirge, verschwimmen die Hügelketten im bläulichen Dunst, davor weiden Kühe zwischen bizarren Kandelaber-Euphorbien. Ihre Hirten kommen bergauf, bergab über Stock und Stein gelaufen, und ganz plötzlich hat sich einmal mehr wie aus dem Nichts ein Dutzend fröhlicher Kinder um die Fremden versammelt. Wenn dann die Dämmerung anbricht, macht sich ganz Äthiopien auf den Weg: Sechsjährige treiben Ochsen von der Weide, Jungs in löchrigen Wollpullovern gehen Arm in Arm, Frauen und Männer schleppen Wasserkanister, Hühner mit zusammengebundenen Beinen und manchmal eine Kalaschnikow - Afrika kehrt nachhause zurück.

Äthiopien

Auf der Fahrt zum Tana-See wechseln grasige Ebenen mit grünen Linsenfelder und Äckern mit gelbem Teff, dem heimischen Getreide. Wie Zuckerhüte ragen spitze Basaltkegel daraus hervor. Kinder jagen mit Peitschengeknall die Vögel aus der Hirse, mächtige Schirmakazien und weiße Kuhreiher spielen "Jenseits von Afrika", und alle paar Kilometer rostet das Skelett eines Panzers vor sich hin. Was nun auch die letzte der Touristenfragen beantwortet: Ja, man kann dieses Land besuchen. Der Krieg gegen Eritrea, dieser blutige Zwist unter einstigen Waffenbrüdern, ist vorbei. Die Haupttouristenrouten sind sicher.

Und dennoch bringt Äthiopien den Reisenden immer wieder an seine Grenzen: Ein Abend in einer Kneipe in Axum. Unter den Bildern indischer Filmschauspieler und einem Jesu mit brennendem Herzen serviert die 18-jährige Besitzerin bernsteinfarbenen Honigwein. Ein ernster junger Mann beginnt, auf der Masinko, der einseitigen Geige, zu spielen, und singt klagend dazu. Als Kaffee gereicht wird, macht er eine Pause und wendet sich an den Besucher. Hogus heißt er, ist 16, geht zur Schule und ernährt mit der Musik seine Mutter und die Schwester. Der Vater, "a fighter", ist in einem der Kriege gefallen. Er wache, sagt Hogus, beinahe jede Nacht auf und könne nicht mehr einschlafen. Weil er sich solche Sorgen mache, irgendwann seine Familie nicht mehr durchbringen zu können. Ob in Deutschland Geld mit Masinko-Spielen zu verdienen sei? Oder welch anderen Rat ihm der Gast für die Zukunft geben könne? Fragt, und sieht den Fremden eindringlich an. Will keinen Kugelschreiber, kein T-shirt, kein Geld. Bloß überzeugenden Trost. Begründete Hoffnung. Warum sammelt er nicht für ein Fussballtrikot...?

 

Reiseinformationen

Anreise:

Ethiopian Airlines und Lufthansa verbinden Stuttgart, Berlin, Köln, Düsseldorf, Frankfurt, Hamburg und München mit Addis Abeba.

Einreise:

Visum ist erforderlich.
Über: Botschaft der Bundesrepublik Äthiopien
Brentanostr. 1
53113 Bonn
Tel.: 0228 - 233041
Fax: 0228 - 233045

Beste Reisezeit:

Im Hochland herrschen das ganze Jahr über angenehme Tagestemperaturen bis ca. 25 Grad. In der Regenzeit von Juni bis September kann es schlammig und unangenehm werden.

Bekleidung und Ausrüstung:

Stabile Schuhe. Bequeme, leichte Sommerkleidung. Dazu aber Pullover oder Fleece, da es nachts garstig kalt werden kann. Baumwollschlafsack aus hygienischen Gründen. Hut, Sonnenschutz, Taschenlampe.

Gesundheit:

Eine Gelbfieberimpfung ist vorgeschrieben. Impfungen gegen Hepatitis A und Hepatitis B sind empfehlenswert. Das Malariarisiko ist im Hochland eher gering. Bilharziosegefahr besteht beim Baden in flachem stehendem Gewässer. Kein Wasser vom Hahn trinken. Obst schälen.

Unterkunft:

Bessere Hotels in den Touristenzielen beginnen bei ca. 40 US-Dollar, wobei der Standard nicht immer dem Preis entspricht. Einfache Unterkünfte in Herbergen schon ab einem Dollar.

Essen und Trinken:

Der säuerliche Fladen, der wie ein brauner Schwamm über ein großes Tablett lappt, und auf den verschiedene Soßen (mit Huhn, Hack, Hüttenkäse, Ei, Ziege, Mangold, Schwein...) gekippt werden, die anschließend per Hand mit abgerissenen Teilen eben dieses Fladens aufgenommen und verspeist werden, ist Injera, das Nationalgericht. Zubereitet wird es aus Teff, einem Getreide, das nur hier bekannt ist. Dashen-, Harrar- und Bati-Bier sind gut trinkbar. Tedj, Honigwein, ist süß und leicht prickelnd. Die Kaffeezeremonie, bei der die Bohnen vor den Augen der Besucher geröstet werden, wird ausführlich zelebriert

 

Website des Autors: www.franz-lerchenmueller.de

 

Reisemagazin schwarzaufweiss

 

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